Joyland
nicht nur Partys, Alkohol und Männer eine Rolle gespielt, sondern auch …« Tina senkte die Stimme. »… Marihuana. «
»Du meine Güte!«, sagte ich. »Das darf doch nicht wahr sein.«
Mrs. Shoplaw warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, was Tina aber nicht bemerkte. »Und ob! Über sie wurde auch in der Zeitung berichtet, in diesen Klatschblättern, weil sie hübsch und reich war, aber vor allem wegen ihrem Vater. Immerhin ist sie vom Glauben abgefallen, wie es so schön heißt. Für die Kirche ihres Vaters war sie ein Skandal – sie ist im Minirock und ohne BH rumgelaufen. Na ja, Sie wissen, dass die Predigten der Fundamentalisten geradewegs aus dem Alten Testament stammen, von wegen die Gerechten werden belohnt und die Sünder bestraft, und zwar bis ins siebte Glied. Und sie ist nicht einfach nur im Green Witch Village von einer Party zur nächsten gerannt.« Tinas Augen waren so groß, dass sie jeden Moment aus den Höhlen zu fallen und ihr die Wangen hinunterzurollen drohten. »Sie ist aus der NRA aus- und in die American Atheist Society eingetreten! «
»Aha. Und das stand auch in den Zeitungen?«
»Aber sicher! Dann wurde sie schwanger, was keine Überraschung war, und als sich herausstellte, dass das Baby schwer krank war … infantile Zerebralparese, glaube ich …«
»Muskelschwund.«
»So oder so, ihr Vater wurde während einer seiner Kreuzzüge darauf angesprochen, und wissen Sie, was er gesagt hat?«
Ich schüttelte den Kopf, aber ich ahnte es schon.
»Er hat gesagt, Gott würde die Ungläubigen und die Sünder strafen. Seine Tochter wäre da keine Ausnahme, und vielleicht würde das Leiden ihres Sohnes sie wieder zu Gott zurückführen.«
»Ich glaube, da kann er lange warten«, sagte ich und musste dabei an den Jesus-Drachen denken.
»Ich kann einfach nicht verstehen, warum die Leute einander im Namen der Religion wehtun, wo es doch auf der Welt schon genug Leid gibt«, sagte Mrs. Shoplaw. »Der Glaube soll doch Trost spenden.«
»Buddy Ross ist nichts als ein selbstgerechter alter Schnösel«, sagte Tina. »Ganz egal, mit wie vielen Männern sie zusammen war oder wie viel Marihuana sie geraucht hat – sie ist immer noch seine Tochter. Und der Junge ist immer noch sein Enkel. Ich habe ihn ein-, zweimal im Ort gesehen, entweder im Rollstuhl oder mit diesen entsetzlichen Schienen, die er tragen muss, damit er gehen kann. Auf mich hat er einen wirklich netten Eindruck gemacht, und sie war nüchtern. Und hat einen BH getragen.« Sie dachte einen Moment nach. »Glaube ich jedenfalls.«
»Ihr Vater ändert sich vielleicht noch, obwohl ich das eher bezweifle«, sagte Mrs. Shoplaw. »Junge Frauen und junge Männer werden erwachsen, aber alte Frauen und alte Männer werden nur noch älter und glauben immer fester, dass das Recht auf ihrer Seite ist. Vor allem wenn sie bibelfest sind.«
Mir fiel etwas ein, was meine Mutter oft gesagt hatte. »Auch der Teufel kann aus der Bibel zitieren.«
»Und sogar mit wohlklingender Stimme«, pflichtete Mrs. Shoplaw mir trübsinnig bei. Dann hellte sich ihre Miene auf. »Immerhin, wenn Reverend Ross ihnen erlaubt, in seinem Haus am Beach Row zu wohnen, ist er möglicherweise bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Vielleicht hat er begriffen, dass sie damals noch ein junges Mädchen war, vielleicht noch nicht einmal alt genug, wählen zu gehen. Devin, sind nicht Sie an der Reihe?«
Das war ich. Ich legte Tier. Das brachte mir ganze vier Punkte ein.
*
Tina kam erst richtig in Fahrt und brachte mir, ohne mit der Wimper zu zucken, eine vernichtende Niederlage bei. Immerhin war es schnell vorbei. Ich ging wieder hoch in mein Zimmer und setzte mich am Fenster in den Sessel, um mich wieder Frodo und Sam auf ihrer Reise zum Schicksalsberg anzuschließen. Es gelang mir nicht. Ich klappte das Buch zu und starrte durch das regennasse Fenster auf den leeren Strand und auf den grauen Ozean dahinter. Es war ein einsamer Ausblick, und in Momenten wie diesem kehrten meine Gedanken oft zu Wendy zurück – ich fragte mich, wo sie war, was sie tat und mit wem. Ich sah ihr Lächeln vor mir und wie ihr das Haar über die Wangen fiel, die sanfte Rundung ihrer Brüste, wenn sie einen von ihren zahllosen Strickpullis trug.
Aber nicht heute. Statt an Wendy musste ich an Annie Ross denken, und da wurde mir bewusst, dass ich mich tatsächlich in sie verknallt hatte. Die Tatsache, dass daraus unmöglich etwas werden konnte – sie war bestimmt zehn Jahre älter als ich,
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