Joyland
Geisterbahn.«
Wir verabschiedeten uns, und ich trug mich in die Liste mit den Ferngesprächen ein. Dann ging ich nach oben und setzte mich ans Fenster. Wieder empfand ich diese sonderbare, dumpfe Eifersucht. Warum hatte Tom Kennedy Linda Gray gesehen? Warum er und nicht ich?
*
Die Wochenzeitung von Heaven's Bay erschien immer donnerstags, und die Schlagzeile der Ausgabe vom 4. Oktober lautete: JOYLAND-ANGESTELLTER ZUM ZWEITEN MAL LEBENSRETTER. Meiner Meinung nach war das übertrieben. Hallie Stansfield geht zu hundert Prozent auf mein Konto, Eddie Parks dagegen nur zum Teil. Den Rest kann – eine knappe Verbeugung vor Lane Hardy nicht zu vergessen – Wendy Keegan für sich beanspruchen, denn hätte sie nicht im Juni mit mir Schluss gemacht, wäre ich in jenem Herbst in Durham, New Hampshire, gewesen, siebenhundert Meilen von Joyland entfernt.
Ich habe ganz bestimmt nicht damit gerechnet, dass ich noch einmal jemand das Leben retten würde; solche Vorahnungen sind grundsätzlich Leuten wie Rozzie Gold und Mike Ross vorbehalten. Als ich am 1. Oktober, nach einem weiteren verregneten Wochenende, im Park eintraf, dachte ich eigentlich nur an den bevorstehenden Besuch von Erin und Tom. Der Himmel war wolkenverhangen, aber dem Montag zu Ehren hatte es zu regnen aufgehört. Eddie saß auf seinem Apfelkistenthron vor dem Horror House und rauchte seine gewohnte Morgenzigarette. Ich hob grüßend die Hand. Er machte sich nicht die Mühe, den Gruß zu erwidern, sondern trampelte nur auf seine Kippe und beugte sich dann vor, um die Apfelkiste anzuheben und den Stummel darüberzuwerfen. Das alles hatte ich bereits mindestens fünfzig Mal gesehen (manchmal fragte ich mich, wie viele Kippen sich da unten wohl angehäuft hatten), aber dieses Mal hob er die Kiste nicht an, sondern beugte sich immer weiter vor.
Machte er ein erstauntes Gesicht? Ich weiß es nicht mehr. Als ich begriffen hatte, dass irgendetwas nicht stimmte, konnte ich nur noch seinen ausgebleichten, ölverschmierten Dogtop sehen, weil ihm der Kopf ganz zwischen die Knie gesunken war. Schließlich kippte er vornüber, machte einen Purzelbaum und landete auf dem Rücken, die Beine gespreizt und das Gesicht dem Himmel zugewandt. Inzwischen war es nur noch eine einzige von Schmerz verzerrte Grimasse.
Ich ließ meinen Essensbeutel fallen, rannte zu ihm und kniete mich neben ihn hin. »Eddie? Was ist los?«
»Pumpe«, ächzte er.
Im ersten Moment überlegte ich, was wohl die Bewässerungsanlage damit zu tun hatte, aber dann sah ich, wie er sich die behandschuhte rechte Hand auf die linke Brust drückte.
Der Dev Jones, der ich vor Joyland gewesen war, hätte einfach um Hilfe gerufen, aber nachdem ich mich vier Monate lang im Jargon geübt hatte, kam mir das überhaupt nicht in den Sinn. Ich holte tief Luft, hob den Kopf und schrie, so laut ich konnte: »HE, TÖLPEL!« Lane Hardy war als Einziger in Hörweite, und er kam sofort angerannt.
Die Sommeraushilfen, die Fred Dean einstellte, brauchten keine HLW zu können, wenn sie unterschrieben, aber sie mussten sie lernen. Dank des Erste-Hilfe-Kurses, den ich als Teenager besucht hatte, wusste ich bereits, wie das ging. In dem Kurs waren wir sechs Leute gewesen, und wir hatten am YMCA-Pool eine Puppe mit dem absurden Namen Herkimer Saltfish bearbeitet. Jetzt hatte ich zum ersten Mal die Gelegenheit, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Mal ganz ehrlich: So viel anders als das Ruckzuck-Manöver, das ich bei der kleinen Stansfield angewandt hatte, war es gar nicht. Ich trug kein Fell, und ich musste Eddie auch nicht in die Arme nehmen, aber eine Menge Kraft anwenden musste ich trotzdem. Ich hab dem Rabenaas vier Rippen angeknackst und eine gebrochen. Und ich kann nicht behaupten, dass es mir leidtut.
Als Lane bei mir war, kniete ich schon neben Eddie und führte eine Herzdruckmassage durch, bei der ich kurzzeitig mein ganzes Gewicht auf die Handballen verlagerte und dann lauschte, ob er einatmete.
»Herrgott!«, sagte Lane. »Herzinfarkt?«
»Ziemlich sicher, ja. Rufen Sie einen Rettungswagen.« Das nächste Telefon befand sich in dem kleinen Schuppen neben Paps Aliens Schießbude – seiner Hundehütte im Jargon. Sie war verschlossen, aber Lane hatte das, was wir die Schlüssel zum Königreich nannten: drei Generalschlüssel, die alles im Park öffnen konnten. Er rannte los. Ich machte mit der HLW weiter und wiegte mich dabei vor und zurück, während meine Oberschenkel schmerzten und die Knie sich lauthals
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