Jud Sueß
über den Kopf, die großen, drohenden Buchstaben nicht länger zu sehen, und er weinte und stöhnte. Seine Frau, die nicht wagte, ihn beim Studium zu stören, stand erschreckt an der Tür und hörte, wie er stöhnte, und sie zitterte, und ihr altes Herz schlug vor Angst bis hinauf in ihren dürren Hals. Aber sie wagte nicht, ihn zu stören.
Rabbi Jaakob Josua Falk aber weinte aus seinen eingesunkenen, müden, betagten Augen, und sein Gebetmantel war ganz naß von Tränen.
Der Kirchenratsdirektor Philipp Heinrich Weißensee, von Weißensee jetzt, hatte sich sehr verändert seit jener Nacht, da Magdalen Sibylle dem Herzog zugefallen war. Wohl gab es noch immer keine politische Affäre im Reich, und im schwäbischen Kreis im besonderen, darein er nicht seine gelüstig schnuppernde Nase, seine feinen, spielerischen Finger gesteckt hätte. Aber seine Flinkheit hatte jetzt etwas Fahriges, seltsam Lebloses, Mechanisches. Es kam vor, daß der gewandte, welt- und redekundige Mann mitten im Gespräch absprang, von Abseitigem zu reden begann. Oder daß er mitten im Wort einhielt, mit dem Kopf wackelte, mummelte, ganz schwieg. Dann wieder erschien etwa der peinlich nach der letzten Mode Gekleidete ohne Kniegürtel oder machte sonsteinen unbegreiflichen Toilettefehler. Sehr merkwürdig war sein Benehmen zu den Frauen. Er sprach und bewegte sich vor ihnen mit größter Courtoisie, aber es konnte geschehen, daß er ihnen in aller Verbindlichkeit etwas dermaßen Zotiges sagte, daß selbst der General Remchingen darüber stutzte. Auch wollte man wissen, daß er, von dem früher nie dergleichen bekannt war, jetzt galante Liaisons unterhielt. Sonderbarerweise bevorzugte er solche Damen, die nach allgemeiner Meinung durch die Hände des Süß gegangen waren.
An den Süß attachierte er sich noch mehr als früher. Dies fiel auf. Denn in der nächsten Umgebung des Herzogs wußte man, daß der Jude nicht mehr so unmittelbar im Nabel der Macht saß wie vor Monaten. Auch hätte Weißensee bei der Vertrauensstellung, die er als Haupt des katholischen Projekts genoß, dieses Schwänzeln und Schmeicheln um den Finanzdirektor nicht not gehabt. Allein er ließ keine Gelegenheit ungenutzt, ihn zu sprechen, ihn zu betasten, ja er gab sich so vertraulich, daß der argwöhnische Süß glaubte, er wolle ihn ausholen, ihn stürzen, und sich vor ihm mit jeder Vorsicht spickte. Dann wieder geschah es unvermutet, daß der Kirchenratsdirektor mit unziemlichem Gespöttel auf des Süß Judentum hinwies, was er bisher sorglich vermieden hatte. Er fragte ihn etwa nach der Bedeutung gewisser hebräischer Worte, und trotzdem Süß sehr ablehnend betonte, er habe sein bißchen Hebräisch längst vergessen, wiederholte er diese Frage mehrmals, und dies in größerer Gesellschaft.
Für einen Abend bat er plötzlich und sehr wichtig Bilfinger und Harpprecht zu sich, seine beiden alten Freunde. Die Herren kamen auch sogleich, fragten besorgt, hilfsbereit, was es denn sei. Aber es war nichts; Weißensee brauchte irgendeine durchsichtig leere Ausflucht. Die Herren, verblüfft, sahen sich an, sahen ihn an, erkannten seine Not, blieben. Da saßen sie nun, Schulkameraden, sehr umgetrieben alle drei, begabt von Natur alle drei und wohlgefüllt mit allem Wissen der Zeit, geachtete Namen, in starker Position. Da saßen sie und tranken, und die beiden breiten und behäbigen Männer waren einsilbig,während der schlanke, elegante Weißensee sehr vieles und Gleichgültig-Geistreiches sprach und fast ängstlich bemüht war, kein Schweigen aufkommen zu lassen. Unvermittelt fragte ihn Bilfinger, wie weit sein Bibelkommentar gediehen sei. Die Bücher der Andreas Adam Hochstetter, Christian Eberhard Weißmann, Johann Reinhard Hedinger über diese Materie seien doch eigentlich bestenfalls braver Durchschnitt, und man entbehre sehr des Freundes vorhabendes Werk. Weißensee mit einem fahlen und fahrigen Lächeln und einer leeren Handbewegung meinte, es wäre vielleicht besser gewesen, er hätte sich nie von Hirsau weggerührt und wäre zeitlebens über dieser Arbeit gesessen. »Ja«, sagte Harpprecht, und eigentlich war dies keine Antwort, »es ist eine schmutzige Zeit, alle Wege sind schmutzig, und es ist verflucht schwer, sich sauberzuhalten.«
Die politische Stellung Weißensees wurde immer mehrdeutiger. Er vereinte Unvereinbares. Er saß im Elfer-Ausschuß des Parlaments, formulierte und stilisierte die Beschwerden der Demokraten gegen das Willkürregiment des Herzogs und war
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