Jud Sueß
eine Stille, entsetzlich, mordschwanger, unausweichlich, mit keinem Namen zu nennen, nicht zu tasten, als wiche die Luft aus ihren Straßen, daß sie vergebens um Atem japsten. Das Furchtbarste war die erste Woche. Dies Warten, dies schreckhafte, gelähmte Hocken und Nichtwissen: wer, wo, wie. Die Angesehensten liefen zu den Behörden. Sonst, wenn man sie brauchte, wurden sie umschmeichelt; jetzt wurden sie nicht vorgelassen. Dies Achselzucken in den Vorzimmern, diese Augen- und Herzensweide an ihrer Angst, dieser lauersame Hohn, dies Preisgeben, dieses Handzurückziehen von den Schutzlosen. Ai! diese Behörden, die sich das teure Geld zahlen lassen für ihre Schutzbriefe und keine Zeit haben für die Fährnis und hohe Not ihrer Juden. Ai! diese zwei kahlen und lässigen Stadtsoldaten am Tor des Ghettos, wie sollen die schützen vor einer Horde von tausend Räubern und Mördern! Ai! man sieht deutlich, wie die Ämter und Ratsherren die Augen und die Ohren zumachen und die Hände auf den Rücken legen, daß das Gesindel ungehindert kann herfallen über die Wehrlosen! Ai die grausige Not! Soll helfen der allgewaltige Gott, gelobt sein Name! Ai du armes Israel! Ai die schutzlosen, zerrissenen Zelte Jaakobs!
Schwarzgeflügelt, geierschnäbelig, herzlähmend flog die Nachricht durch alle jüdischen Gemeinden, von Polen bis ins Elsaß, von Mantua bis Amsterdam. Sitzt einer gefangen im Schwäbischen, in Eßlingen, der bösen Stadt, Brutstätte der Bosheit und Niedertracht. Sagen die Gojim, er habe geschlachtet eines von ihren Kindern. Rüstet sich Edom, will herfallen über uns, heute, morgen, wer weiß. Höre Israel!
Fahl und grau wurden die Männer da und vergaßen ihre Geschäfte, verschreckt, mit ratlosen, törichten Augen flatterten in die Winkel ihre schönen, geschmückten Frauen und sahen gläubig auf die Männer, bereit, blind zu befolgen, was sie rieten. Den Atem an hielt die ganze Judenheit des Römischen Reichs und weit hinaus über die Grenzen. In ihrenBetsälen sammelten sie sich, schlugen die Brüste sich, bekannten ihre Sünden, fasteten den Montag, den Donnerstag und wieder den Montag vom Abend zum Abend. Aßen nicht, tranken nicht, rührten keine Frau an. Standen eng gepreßt in ihren übelgelüfteten Betsälen, eingehüllt in ihre Gebetmäntel und in ihre Totengewänder, den Leib fanatisch schaukelnd und werfend. Schrien zu Gott, schrien zu Adonai Elohim, schrien mit gellen, verzweifelten Stimmen, die an die gellen, mißtönigen Widderhörner erinnerten, die sie am Neujahrsfest bliesen. Sie zählten auf ihre Sünden, sie schrien: »Nicht unsertwillen, o Herr, begnade uns, nicht unsertwillen! Sondern um der Verdienste der Erzväter willen.« Sie zählten auf die endlosen Namenslisten der Vorfahren, getötet für die Heiligung des göttlichen Namens, die Gemarterten von den Syrern, die Gefolterten von den Römern, die Geschlachteten, Gewürgten, Verbannten von den Christen, die Märtyrer von den polnischen Gemeinden bis zu den Gemeinden von Trier, Speyer, Worms. Sie standen weiß eingehüllt in ihre Leichenlaken, den Kopf bestreut mit Asche, sie standen den ganzen Tag, alle Glieder ekstatisch geschüttelt bis zur Erschöpfung, sie schacherten und zeterten mit Gott, wenn der Tag graute, und wenn der Tag trüb wurde und sich neigte, standen sie noch und schrien mit ihren häßlichen, ausgeschrienen Stimmen: »Gedenke des Bundes mit Abraham und der Opferung Isaaks!« Aber auf hundert Umwegen mündeten alle Gebete immer wieder in den wilden, gellenden Chor des Bekenntnisses: »Eins und einzig ist Adonai Elohim, eins und einzig ist der Gott Israels, das Seiende, Überwirkliche, Jahve.«
Aber durch Gitter getrennt, den Männern unsichtbar, waren die Frauen. Verschüchtert, ängstlich, mit großen Augen, wie Vögel aufgereiht auf einem Stab im Käfig, saßen sie, plapperten sie leis und fromm und töricht aus ihren Andachtsbüchern, die, in rabbinischen Lettern, in einem Mischmasch von Deutsch und Hebräisch die biblischen Geschichten und andere fromme Legenden erzählten.
In allen Tempeln und Betsälen von Mantua bis Amsterdam, von Polen bis ins Elsaß standen die Männer so, fasteten, beteten. Zu gleicher Stunde, wenn der Tag kam und wenn er sich neigte, stand die ganze Judenheit, gewendet gegen Osten, gegen Zion, die Gebetriemen an Herz und Hirn, gehüllt in Leichenlaken, stand und bekannte: »Nichts ist uns geblieben, nur das Buch«, stand und schrie: »Eins und einzig ist der Gott Israels, das Seiende,
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