Jud Sueß
einem einzigen Augenblick hatte sich die beklemmendeStille in tobendes, sieghaftes, tierisches Grölen gelöst. Der Jude lächelte still, einsam, sehr fern. Durch kotiges Geschimpf, ihn stoßend und tretend, mühten sich die Herren, das Bild dieses Lächelns nicht in ihr Inneres dringen zu lassen.
Fünftes Buch
Der Andere
Wo Morgenland und Abendland ineinandergehen, winzig klein, liegt das Land Kanaan. Und Mittagland, das uralte Mizraim, streckt seine Zunge vor, leckt hinein in die Bindung. Wo die Wege des Westens die Wege des Ostens treffen, liegt die Stadt Jerusalem, die Burg Zion. Und wenn sie sich zum Gotte Israels bekennen, dem Einen, Überwirklichen, Jahve, bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, dann stehen die Juden mit geschlossenen Füßen und schauen nach der Stadt Jerusalem, nach der Burg Zion, die des Westens schauen nach Ost, die des Aufgangs nach West, alle zur gleichen Stunde, alle nach der Stadt Jerusalem.
Vom Abendland her schlägt eine wilde, ewige Welle nach dem Lande Kanaan: Durst nach Leben, nach Persönlichkeit, Wille zum Tun, zur Lust, zur Macht. Raffen, an sich reißen, Wissen, Lust, Besitz, mehr Lust, mehr Besitz, leben, kämpfen, tun. So klingt es vom Westen her. Aber im Süden unter spitzen Bergen liegen in Gold und Gewürz tote Könige, der Vernichtung herrisch ihren Leib versagend; in die Wüste gesetzt, in kolossalischen Alleen höhnen ihre Bilder den Tod. Und eine wilde, ewige Welle schlägt von Mittag her nach dem Lande Kanaan: wüstenheißes Haften am Sein, schwelende Begier, nicht die Form und Bildung, nicht den Körper zu verlieren, nicht zu vergehen. Aber von Ost her klingt sanfte Weisheit: schlafen ist besser als wachen, tot sein besser als lebendig sein. Nicht widerstreben, einströmen ins Nichts, nicht tun, verzichten. Und die milde, ewige Welle verebbt von Morgenland her nach Kanaan.
Ewig fluten die drei Wellen über das kleine Land und münden ineinander; die helle, rauschende vom Wollen und Tun,die heiße, glühende vom herrischen Nicht-dem-Tod-sich-Fügen, die milde, dunkle vom Verströmen und Verzichten. Still und aufmerksam liegt das winzige Land Kanaan und läßt die Wellen über sich hin und ineinander fluten.
In dem winzigen Land, helläugig, hellhörig, saß das Volk Israel. Lugte nach Osten, lauschte nach Westen, spähte nach Mittag. Es ist ein so kleines Volk, und es sitzt zwischen Kolossen: Babel-Assur, Mizraim, Syrien-Rom. Es muß scharf aufpassen, will es nicht unversehens zerdrückt werden oder in den Riesen zergehen. Und es will nicht zergehen, es will dasein, es ist ein kluges, kleines, tapferes Volk, es denkt nicht daran, sich zerdrücken zu lassen. Die drei Wellen kommen, in ewigem Gleichmaß, immer wieder. Aber das kleine Volk hält stand. Es ist nicht dumm, es wehrt sich nicht gegen das Unmögliche; es duckt sich, wenn eine Welle gar zu hoch einherkommt, und läßt sich ruhig bis über den Scheitel überspülen. Aber dann taucht es wieder hoch und schüttelt sich ab und ist da. Es ist zäh, aber nicht töricht obstinat. Es gibt sich allen Wellen hin, doch keiner ganz. Nimmt sich aus den drei Strömungen, was ihm tauglich scheint, paßt es sich an.
Die ständige Gefährdung zwingt das kleine Volk, keine Bewegung der gigantischen Nachbarn zu übersehen, immer vorsichtig zu spüren, zu wittern, zu sichten, zu erkennen. Sichtung, Einordnung, Erkenntnis der Welt wird ihm zur Natur. Es wächst ihm eine große Liebe zum Mittel solcher Erkenntnis, zum Wort. Durch Religionsgesetz ächtet es den Analphabeten, Kenntnis der Schrift wird göttliches Gebot. Es zeichnet auf, was ihm die drei Wellen bringen. Wandelt in eigene, selbstschaffene Worte die helle, schmetternde Lehre vom Tun, die dumpfe, schwelende vom Trotz zur Unsterblichkeit, die linde, verrieselte von der Seligkeit des Nichtwollens und Nichttuns. Und das kleine Volk schreibt die beiden Bücher, die von allen am meisten das Gesicht der Welt veränderten, das große Buch vom Tun, das Alte Testament, und das große Buch vom Verzicht, das Neue. Trotz zur Unsterblichkeit aber bleibt der Grundton in allem seinem Leben und Wort.
Die Söhne des kleinen Volkes gingen aus in die Welt und leben die Lehre des Westens. Wirken, ringen, raffen. Doch sie sind trotz allem nicht recht heimisch im Tun, sie sind zu Hause auf der Brücke zwischen Tun und Verzicht. Und immer wenden sie sich, schauen zurück nach Zion. Oft wohl, in der Erfüllung des Siegs, in der Erkenntnis der Niederlage, mitten im rasendsten Lauf
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