Jud Sueß
Ballsaal: »Der Herzog ist tot.« Die Musik brach ab. Das ungeheure, lähmende Entsetzen, die verfahlten, verzerrten Gesichter überall. Das ratlose Gewimmel, Durcheinanderhuschen, Sich-in-die-Ecken-Drücken. Das verlegene Von-nichts-wissen-Wollen der Gäste, der kaiserlichen, bayrischen, würzburgischen Herren. Die Offiziere standen herum wie dumme, große, bösartige Raubtiere, hinter denen unversehens eine Falle zuklappt. Solcher verwünschte Zufall just in diesem Moment konnte jedem einzelnen an Stellung nicht nur und Besitz, nein, ans Leben gehen. Sogar der kleine Geheimrat Fichtel verlor die Fassung; seit Jahrzehnten hatte er vor sich selber und aller Welt sich beherrscht; jetzt bekam er mit einem ein hartes, verkniffenes, keifendes Bauerngesicht und fluchte leiseund unflätig vor sich hin. Erst nach zehn Minuten hatte er sich so weit, daß er in Kälte und Sachlichkeit denken konnte. Er überlegte, das Testament, das er dem Toten abgerungen, werde nun doch nicht mehr viel nützen; es blieb nur übrig, die ganze Maschinerie sofort stillzulegen, möglichst alle Spuren von Würzburg her zu verwischen und mit gutem Anstand, unkompromittiert, aus der Affäre herauszukommen.
Süß stand derweilen allein in einem verlorenen Seitenkabinett. Er kümmerte sich um nichts, das Auf und Ab der allgemeinen Erregung schlug nicht bis hierher. Der Sturm hatte sich ein wenig gelegt. Der Jude sah nichts, hörte nichts, achtete nichts, alles um ihn versank. Er wartete. Nun wird, jetzt gleich, das Kind da sein, um ihn sein wie die liebe Luft, lieblich in ihn einströmen, ihn leicht und schwebend machen. Er saß, still, mit einem gelösten, fast törichten Lächeln und wartete.
Sie kam nicht. Nichts kam. Er fühlte sich mit jedem rinnenden Augenblick kälter, leerer, schwerer werden. Und plötzlich wußte er, sie wird nie kommen. Er sah den Herzog, das schwarzblaue, entstellte Gesicht, die heraushängende Zunge, die vorquellenden Augen. Übelkeit fiel ihn an. Er erschrak. Er begriff nicht mehr, wie ihn das hatte ausfüllen, ihn hatte hochtragen können. Was denn, um Gottes willen, hatte das mit dem Kind zu tun? Das Kind war weiß, sänftigend, mondstill. Und sein Handel mit dem Herzog, das violettrote Meer, sein Brausen, sein wilder Geruch, ja, in welcher hirnrissigen Anwandlung hatte er denn geglaubt, darüber zu dem Kind zu kommen? In dumpfer Angst suchte er Zusammenhänge, begriff sich nicht mehr. Seine Zwiesprache mit dem sterbenden Karl Alexander, die war ein wildes Zucken und Verebben gewesen wie ein Beilager mit einer Frau, aber kein Schweben und Gelöstsein. Und jetzt war er dumpf, traurig, voll Übelkeit und weiter weg von dem Kind als je.
Es wehte ihm den Nacken hinauf, feuchtkalt. Er hob den Rücken, überfrostet, wie in Abwehr. Ein Gesicht schaute ihm über die Schulter. Es war sein eigenes Gesicht.
Er schüttelte sich, stand auf. Der Sturm hatte wieder eingesetzt; er schloß fester die Fenster. Da war eine Stimme im Wind, war in seinem Ohr, war im Zimmer, eine mißtönige, traurige Stimme, die Stimme des Oheims. Sie war nicht laut, aber sie füllte das Zimmer ganz an, sie füllte das Schloß an, die ganze Welt war voll von dieser Stimme. Da hatte er Gewißheit: er war falsch gegangen. Alles, was er gedacht, gewirkt, getrachtet hatte, sein Handel mit dem Herzog, sein ganzer künstlicher Turm und Triumph war alles falsch und Irrgang gewesen.
Seltsamerweise war er nicht enttäuscht von dieser Erkenntnis oder gar empört. Nein, es war gut so. Er sah sich wiederum schreiten in jener stummen, schattenhaften Quadrille, Rabbi Gabriel hielt seine rechte, der Herzog seine linke Hand. Sie schlängelten sich, machten ihre Pas, verneigten sich. Aber heute war keine Qual in dem nebelhaften, farblosen Bild. Denn nun lösten sich die Hände, die Tanzenden sahen sich an, still, ernsthaft, ohne Feindschaft, sie nickten einer dem andern ein letztes Mal zu, dann gingen sie auseinander.
Eine grenzenlose Mattigkeit fiel ihn an. Nie in seinem Leben war er so ausgehöhlt von dinghafter, leibhafter Schwäche und Müdigkeit gewesen. So mußte es sein, in lauem Bad sitzen und aus geöffneten Adern, ganz langsam, das Leben entströmen lassen. Dieses Schmelzen, Weichwerden, Zusammenstürzen in ihm. Dieser süße, ziehende, lüstige, alle Glieder pressende, reibende, lösende Schmerz. Dieses Sichaufgeben, Stürzen, Getragensein. Dieses Nichtwollen, dieses zum erstenmal Sichtreibenlassen, dieses selige, willenlose Vergleiten, Verströmen. Als
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