Judassohn
verschwunden.«
Harm hätte liebend gern etwas Lebendiges in winzige Fetzen gerissen und wäre darauf herumgetrampelt. Vorzugsweise auf Wilson oder den Arschlöchern, die ihn frech ausgeraubt hatten. Ein perfekteres Timing für den Coup gab es nicht. »Ich komme nach Hause, Wilson«, grollte er in den Hörer und unterbrach das Gespräch.
Shit, das habe ich davon. Sobald die Zügel im eigenen Reich schleifen, brechen die verdammten Scheißkerle alle aus.
Harm fand es an der Zeit, noch ein paar Kunstharzwürfel zu verschicken.
Er verließ das Varieté, während der zweite Block der Vorstellung anfing, und machte sich auf den Weg zum Hotel. Wenn er jetzt aufbrach, käme er mit hoher Geschwindigkeit noch vor demMorgengrauen bis zum Eurotunnel. Sein Ford Mustang lief dreihundertzwanzig Stundenkilometer, und die beste Route hatte er sich bereits ausgesucht, um an fließendem Wasser ungehindert vorbeizugelangen.
Emma muss leider warten. Die Bücher sind wichtiger als sie.
Zuerst fiel Harm gar nicht auf, dass hinter ihm ein rhythmisches, leises Klacken erklang. Die Spitze eines Gehstocks prallte hörbar auf das Kopfsteinpflaster.
Und das weckte Erinnerungen. Erinnerungen aus dem Leben von Sandrine.
Harm wandte sich um – und schaute in eine leere Gasse.
Werde ich jetzt noch verrückter, als ich es ohnehin bin?
Ein dunkles Heulen erklang, das ungeübte Ohren für schiefen Gesang aus der Kehle eines großen Hundes halten würden. Er jedoch erkannte es als den Ruf eines Wolfs, gefolgt von einem finsteren Lachen, das kurz als Echo durch die Straße rollte.
Ich fasse es nicht. Da versucht jemand, einem Vampir Angst zu machen!
Harm drehte sich nach vorn.
Vor ihm, etwa zehn Meter entfernt, stand eine Gestalt im Anzug, das Gesicht durch die Schatten verborgen und die Hände auf einen schwarzen Ebenholzgehstock gestützt.
Ist … das die Möglichkeit? Das kann nicht de Morangiès sein!
Und das aus einem einfachen Grund: Der Mann, der sich ihm entgegenstellte, besaß noch beide Arme. Außerdem wurden Menschen und Menschenfresser nicht so alt. Wer käme noch in Frage?
Die Nazi-Boys würden weniger Theater machen. Möglicherweise will sich einer der Leipziger Gothics als Touristenschreck betätigen. Oder kommt der Besuch von Scylla, die mir eine Abreibung verpassen lassen will?
»Dominic de Marat!«, hörte er eine Frau hinter sich rufen.
Er sah über die Schulter, konnte aber niemanden erkennen. Als er nach der Gestalt mit dem Stock schaute, war sie verschwunden.
Du meine Güte …
»Greift mich an oder lasst mich in Ruhe. Die Kinderkacke könnt ihr euch sparen«, sagte Harm unbeeindruckt. Er marschierte weiter, auch wenn er wesentlich wachsamer war als vorher. Schnell checkte er im Hotel aus und fuhr mit dem Lift hinunter in die Tiefgarage.
Sein Mustang wartete auf ihn, Box 21. Eine der Neonlampen flackerte, Wasser tropfte irgendwo von der Decke.
Das ist doch kein beschissener Gruselfilm.
Harm legte die Entfernung von der Kabine bis zum Wagen betont langsam zurück, auch wenn er sich beobachtet fühlte. Er stieg ein, donnerte aus der Tiefgarage und seiner Heimat England entgegen.
Mit einem Blick in den Spiegel prüfte er, ob ihm jemand folgte.
Das ungute Gefühl blieb. Es tat sich einfach zu viel in diesem Abschnitt seines langen Lebens, was er nicht verschuldet hatte. Nicht Harm Byrne.
19. Juni 2008,
London, Großbritannien
Harm hielt sich an die alte Weisheit, dass die einfachsten Lösungen meistens die besten waren.
In dem Fall bedeutete es, dass er zu Kevin O’Malley fuhr, dem Buchhändler, dem er seine antiquarischen Schätze verdankte und der an ihm geschätzte vierhunderttausend Pfund verdient hatte.
Kann sein, dass er dahintersteckt. Ich werde es in Sekundenherausfinden. Sekunden, die zu Minuten werden, wenn es mir viel Spaß macht.
Sicherlich traute er den Räubern zu, auf anderem Wege herausgefunden zu haben, welche Werke er bei sich eingelagert hatte. Oder Sammlern, die schlaue Räuber beauftragt hatten. Am einfachsten gelang das über Kevin O’Malley. Sollte dem so sein, war Harm gespannt, was den Händler dazu bewogen hatte, die für ihn einträgliche Geschäftsbeziehung gegen Verrat und vermutlich eine hohe Einmalzahlung einzutauschen.
Verurteile ihn nicht voreilig,
mahnte er sich.
Harm hatte einen schweren, stark ausgebeulten Rucksack über der rechten Schulter, in dem er bei sich trug, was er unter Umständen noch benötigte.
Er klingelte beim Spezialgeschäft des Buchhändlers, in
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