Judassohn
mir leid«, sagte eine Jungenstimme plötzlich in feinstem Französisch hinter ihr.
Gwenn schrak zusammen und wäre beinahe ins Wasser gestürzt. Sie sah über die Schulter und erkannte den Knaben, von dem die Guivarchs am Abend zuvor noch berichtet hatten.
Der galettesverschlingende Entenköpfer!
Sie war überrascht von seinem Auftauchen.
Rätselhaft wie schon zuvor.
Das Holz des Stegs knarrte gewöhnlich unter dem geringsten Druck, sogar unter ihrem Gewicht. Aber nicht bei ihm. »Was tut dir leid?«
»Dass mein Großvater ihn schlagen ließ.« Er kam unsicher auf sie zu und setzte sich neben sie, als wäre sie seine Vertraute. Feinste schwarze Seidenculottes, Strümpfe, Hemd und Jacke mussten ein Vermögen gekostet haben. »Das wollte ich nicht.«
Gwenn verstand die Erklärung nicht. »Du meinst die Blessuren?«Er nickte. »Aber Tanguy sagte, er hätte sich wegen meiner Ehre geprügelt.« Sie bemühte sich, nicht ins Bretonische zu verfallen, weil sie davon ausging, dass er es nicht verstehen würde.
»Kann sein. Aber zuerst haben ihn Louis und Alphonse gezüchtigt.« Er zog die Nase hoch. »Die Galettes waren sehr lecker. So gute macht Großvaters Köchin nicht.«
»Wer ist denn dein Großvater, petit Seigneur?« Gwenn fand den Jungen ungewöhnlich. Wenn sein Auftauchen ein Zeichen sein sollte, wusste sie es nicht zu deuten. Sie unterdrückte ihre Ungeduld mit ihm. Er benahm sich zu gleichgültig und sprang zwischen den Themen, als rührte ihn Tanguys Tod nicht; doch in den braunen Augen erkannte sie Traurigkeit und Bedauern.
»Der Comte de Morangiès«, sagte er gelangweilt.
»Ihr seid nicht aus Guérande, oder?«
»Wir stammen aus der Auvergne. Kennst du das Gévaudan?«
Gwenn horchte auf. »Ging da nicht vor Jahren eine Bestie um?« Es war überall davon berichtet worden. »Ein Wolf, so sagte man.«
»Ja. Aber das war, als ich noch gar nicht geboren war. Mein Großvater half, die Bestie zu jagen. Sie hat über einhundertfünfzig Menschen gerissen«, erzählte der Junge mit bewundernswerter Gelassenheit. »Gerissen und gefressen wie dumme Schafe und nochmals hundert schwer verletzt.« Er richtete die braunen Augen auf sie. »Gibt es wieder Galettes?«
»Nein. Ich denke, dass Maman Mariette heute nichts backen wird, petit Seigneur«, erwiderte Gwenn und musste schlucken. »Ihr Sohn Tanguy ist gestern von Räubern ermordet worden. Wir …« Ihre Stimme brach.
»Ah.
Er
ist der Held, von dem man in Guérande spricht.« Er lächelte. »Dich hat er also vor dem Tod bewahrt.« Er legte sich auf den Steg und verschränkte die Arme hinter dem Kopf; die Füße baumelten über dem Wasser. »Wenn ich mal sterbe, dannmöchte ich auch ein Held sein. Das hat er mir schon mal voraus.«
Gwenn wurde der Junge immer undurchschaubarer.
Was möchte er von mir?
Das wollte sie herausfinden. Jedenfalls lenkte er sie von den tristen Selbstmordgedanken ab. Noch wusste sie nicht, ob sie das gut finden sollte. »Deinen Namen hast du noch gar nicht gesagt.«
»Jean-François-Charles der Zweite. Und du bist Gwenn.« Seine Blicke verfolgten die rasch ziehenden Wolken. »Du kannst Jean zu mir sagen. Ich brauche die ganzen Titel nicht.« Er atmete aus. »Keine Galettes. Das ist sehr schade.«
Ein merkwürdiger Junge.
Sie ließ sich ebenfalls auf den Rücken sinken. Das Holz war noch angenehm warm. »Was hat dich zu mir getrieben, petit Seigneur?«
»Ich wollte es einfach, um dir Gesellschaft zu leisten. Ich bin auch traurig, weißt du?«
Nebeneinander lagen sie da und betrachteten den sich immer mehr verdunkelnden Himmel.
Gwenn wünschte sich, dass es Tanguy wäre und nicht ein Junge, der neben ihr ruhte. Früher hatte sie mit ihrem Geliebten oft so dagelegen und der Dämmerung zugeschaut, wie sie die Oberhand über den Tag gewann. Unaufhaltsam. Sie verlor sich in Erinnerungen und vergaß Jean.
Zeit verstrich. Die Sonne war gegangen, der bleiche, runde Mond sowie die ersten Sterne zeigten sich immer deutlicher am Firmament und gewannen an Strahlkraft. Das Licht veränderte sich, tauchte die Welt in Schatten. Die Brise ließ das Schilf nach wie vor laut rascheln.
»Vollmond!« Jeans begeisterter Ruf ließ sie zusammenzucken. Sein rechter Arm schnellte in die Höhe und zeigte auf die Silberscheibe. »Hüte dich vor ihm. Er weckt das Böse in den Leuten.« Dann schnupperte er vernehmlich. »Du riechst wie eine Schwangere«, sagte er ansatzlos zu ihr.
»Bitte?« Gwenn drehte verblüfft den Kopf. Sie fand seinen Blick und
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