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Judassohn

Titel: Judassohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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bemerkte den karamellfarbenen Ring um die Pupillen, der hypnotische Macht besaß.
    »Ich habe eine sehr feine Nase. Die Menschen riechen stark. Was nicht immer schön ist«, erläuterte er mit Selbstverständlichkeit. »Alte Menschen vor allem. Ihnen haftet etwas an, was mich abstößt.« Er nickte ihr zu. »Du riechst wie eine Schwangere, Gwenn. Dein Körper hat sich verändert, auch wenn du es noch nicht spürst.« Er schenkte ihr ein Lächeln, und es wirkte ehrlich. »Dein Held hat dir ein Vermächtnis hinterlassen.« Er stand auf. »Ich muss zurück. Dieses Mal wird es keine Lügengeschichte geben, mit der sich Louis und Alphonse vor dem Zorn meines Großvaters retten können. Und seine Strafe wird ihnen mehr als Prügel einbringen. Das haben sie verdient.« Er lief den Steg entlang.
    Gwenn erhob sich verdutzt. »Jean!«
    Ich habe vergessen zu fragen, warum sie Tanguy zusammengeschlagen haben!
    »Jean, warte!« Sie folgte ihm.
    Es wunderte sie nicht, als sie ihn nach wenigen Schritten aus den Augen verloren hatte. Der Vorsprung war zu groß.
    Das Verschwinden scheint eine seiner Gepflogenheiten zu sein.
    Sie kehrte zum Haus der Guivarchs zurück, wo Pierrick wieder auf dem Binioù Kozh spielte und zwei Sänger begleitete. Maman Mariette stand in der Küche und verteilte eine stärkende Suppe an die Trauergäste, die von weither angereist waren. Sie würden bald wieder aufbrechen.
    Gwenn half ihr, dachte dabei aber immer noch an Jeans Worte.
    Sollte ich wirklich schwanger sein?
    Die Vorstellung, dass ein Stück von Tanguy auf diese Weise bei ihr geblieben war, gab ihrem Leben wenigstens einen Sinn und eine schöne Verantwortung. Sie fürchtete sich nicht davor,ein Kind auszutragen. Es bedeutete keine Schande für sie. Mariette würde sich freuen, auch Gurvan und Pierrick.
    Onkel Gurvan und Onkel Pierrick.
    Gwenn lächelte still. Der Nachkomme eines Helden reifte in ihr – falls der seltsame Jean keinen Unsinn geredet hatte. Jetzt wusste sie sein Auftauchen zu deuten: der Bote einer frohen Kunde trotz der schweren Stunden, die sie durchmachte.
    Unbewusst strich sie über ihren flachen Bauch.
    Wie kann der Junge das riechen?
    Zwar war ihre Blutung ausgeblieben, aber das konnte auch von der schweren Arbeit herrühren, die sie in den letzten Wochen verrichtet hatte. Das geschah gelegentlich bei ihr, wenn sie sich zu sehr anstrengte.
    Gwenn goss sich einen Schluck Wasser ein und trank. In ihr tobte eine nie gekannte Zerrissenheit. Auch wenn Jean sich geirrt haben sollte, fand sie den Gedanken an ein Kind von Tanguy einerseits derart schön, dass es um ihr Herz leichter wurde. Aber die Vorstellung, dass dieses Kind niemals seinen großartigen Vater kennenlernen würde, machte die Trauer andererseits nur noch stärker.
    Ich werde dem Kind die gleiche Liebe geben, wie ich sie für dich empfunden habe, Tanguy.
    Nach und nach gingen die letzten Gäste. Die Traurigkeit blieb in den Wänden des Hauses Guivarch zurück.
    Die Brüder, Mutter und Gwenn versammelten sich wieder am Sarg und beteten leise den Rosenkranz. Die Totenwache hatte begonnen. Die Kerzen brannten nieder, Zeit verstrich, und die Nacht vor den Fenstern wurde finsterer – bis der volle Mond sich den Weg durch die Wolken bahnte.
    Das helle Licht fiel durch das Fenster auf die Männer und Frauen. Und auf den Sarg mit dem Toten.
    Gwenn dachte an Jeans warnende Worte.
    Sollte ich mich nicht vor dem Vollmond hüten?
    Sie erhob sich und zog die Vorhänge zu, bevor sie an ihren Platz zurückkehrte.
    Irgendwann hob Gurvan den Kopf. »Flieg davon, Seele meines Bruders. Über das Moor, hinauf in den Himmel ins Paradies. Sieh auf uns herab und schütze uns.«
    »Amen«, murmelten die anderen.
    »Mögen diejenigen, die dir das angetan haben, zur Hölle fahren«, sagte Pierrick mit Inbrunst und weitaus weniger christlich. »Der Teufel soll ihre Seelen fressen und ausscheißen, sie kochen und in heißem Fett braten! Ich wünsche ihnen Qualen!
Unendliche
Qualen!«
    Auch hierauf antworteten alle mit »Amen«.
    Dann senkte sich Stille auf den Raum herab; nur das Zirpen der Grillen drang gedämpft herein.
    »Ich mache uns einen Gerstenkaffee«, verkündete Mariette und stand auf. »Er wird uns mit seiner Wärme durch die Nacht bringen.«
    »Gibt es Neuigkeiten zum Verbleib der Verbrecher?« Gwenn nahm einen Span und entzündete ihn, brachte damit eine erloschene Kerze zum Brennen.
    »Man hat ihre Spuren gefunden, wie mir einer von der Maréchaussée sagte. Sie haben eine

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