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Judassohn

Titel: Judassohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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Anlegesteg bei Kerhinet erreicht. Seit er seinen echten Namen vernommen hatte, schienen die Erinnerungen zurückzukehren.
    Tanguy
musste
ihn sehen, den Ort des Grauens und der Zerstörung.Auch wenn ihn Szomor praktisch freigesprochen und Malo für das Unheil verantwortlich gemacht hatte, konnte er sich nicht verzeihen.
    Es bleibt doch meine Schuld.
    Die Schritte den Pfad hinauf bis zum Weiler fielen ihm unsagbar schwer; seine Knie zitterten. Jedes Mal, wenn die Sohlen den Boden berührten, löste sich eine Sperre in seinem Verstand und setzte aufblitzende Bilder von früher frei. Kurz, grell, zu hastig, um sie genau zu betrachten, doch er sah sie.
    Die Last auf seinen Schultern, das schlechte Gewissen wogen tonnenschwer. Sicherlich hatten ihn die Räuber zu einem Vampir gemacht, aber dennoch hatte
er
die Menschen zerfetzt und
er
seine Verlobte bestialisch ermordet.
    Wie ein Tier.
    Dann tauchte die kleine Siedlung vor ihm im wolkengedämpften Schein der Sterne auf.
    Tanguy blieb stehen.
    Er wusste plötzlich: Fast ein halbes Jahr war seitdem vergangen. Die Fenster waren dunkel, teils zersprungen. Eine Tür pendelte im starken Atlantikwind vor und zurück, schlug im Takt zum Rascheln des Schilfmeeres. Es roch weder nach Menschen noch nach Vieh, die Feuer in den Kaminen und Öfen waren erloschen.
    Das Leben ist gewichen.
    Tanguy machte zwei, drei zögerliche Schritte vorwärts. Der Anblick des vertrauten Ortes brachte die Erinnerungen gänzlich zurück.
    Ich habe ihn entweiht und zu einer Stätte des Todes gemacht.
    Er erkannte das Haus seiner Familie, sah sich und seine Brüder zusammen mit der Mutter vor dem Haus Galettes essen und über den Tag sprechen. Er sah Pierrick beim Schnitzen einer Morta-Pfeife, hörte den Binioù Kozh und den Gesang seiner Mutter dazu.
    All das Schöne ist vergangen.
    Seine Vorstellungskraft schob die Sonne an den Himmel und zeigte ihm Kerhinet am Tag. Plötzlich war es mit geschäftigem Treiben erfüllt, mit Stimmen, Geräuschen und Gerüchen, die er aus frühester Kindheit kannte. Ein göttliches Wunder schien seine Heimat lebendig gemacht zu haben, als wäre das Massaker niemals geschehen. Alte Freunde schritten an ihm vorbei und grüßten ihn, während er steif auf dem Weg verharrte und an seinem Verstand zweifelte. Er roch die frischen Galettes und sah die spielenden Mädchen und Jungen am Brunnen, die sich zu ihm wandten und ihm winkten. Ihm, dem Mörder.
    Ich träume! Wie kann es sein?
    Dann stand sie ihm gegenüber. Sie! In dem hellen Leinenkleid und mit der schwarzen Schürze darüber, die blonden Haare unter der Haube gebändigt.
    »Gwenn«, raunte er gebannt. Tief in seinem Innersten riss es furchtbar, als wollte ihm jemand das Herz rauben.
    Sie lächelte ihm zu und winkte ihm. Ihr rechter Arm hob sich, die Hand zeigte auf die Brière, und sie lachte. Den Kleidersaum leicht angehoben, damit sie schneller rennen konnte, jagte sie den Pfad zur Anlegestelle hinunter. Dabei verlor sie die Haube, ihre langen Haare wehten im Wind. Sie sah über die Schulter und winkte nochmals.
    »Gwenn!«, schrie er – und ein Blitz ging nieder und fuhr ganz in der Nähe ins Moor. Die Illusion zerstob. Tanguy fand sich im verlassenen, stillen Kerhinet wieder.
    Tot wie ich.
    Er schluckte. Sein Herz schmerzte noch immer, und aus der kurz aufgeloderten Freude wurde tiefste Verzweiflung. Es war ein Wachtraum gewesen, der Ausdruck seiner tiefsten Sehnsucht, der ihn noch mehr leiden ließ als zuvor. Er wusste, was er verloren hatte. Was
er
vernichtet hatte.
    Der Wind zerrte an seinen Kleidern, Regen stürzte aus schwarzenHimmeln nieder; über ihm grollte es verheißend. Die nächsten Energien stauten sich an.
    Wie darf ich weiterleben? Wie kann ich weiterleben mit dieser Schuld?
    Tanguy überkam es, und er hob den Arm. »Triff mich!«, schrie er mit überschnappender Stimme. Das Wasser rann ihm in Strömen über die Züge, und die Reißzähne fuhren aus. »Triff mich, Unwetter! Ich befehle es dir!«
    Wieder raste ein Blitz der Erde entgegen.
    Dicht neben ihm wurde es gleißend hell, er wurde geblendet. Ein schrilles Kreischen machte ihn beinahe taub, die Hitze und der Druck zwangen ihn zu Boden. Gleich darauf krachte es, ein heißes Kribbeln rannte durch seinen Körper und versetzte seine Gliedmaßen in wildes Zucken. Den Geruch, der in der Luft lag, nahm er zum ersten Mal in seinem Leben wahr.
    Als Tanguy wieder etwas sah, bemerkte er unmittelbar neben sich einen schwarzen Fleck, wo der Blitz in die Erde

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