Judassohn
einen abschätzenden Blick zu. »Ich denke, dass dir mindestens fünfzig bis sechzig weitere Jahre bleiben. Wie ich schon sagte: Vampire leben nicht ewig.« Er schritt tiefer in das Gewirr aus Kesseln, Röhren und Leitungen hinein, stellte im Vorbeigehen die Brenner darunter an. Es war das Zeichen, dass er sich seiner eigenen Forschung widmen würde.
Er hat von einem Fluch gesprochen.
»Kannst du ihn brechen, Szomor?«, rief er ihm hinterher.
Der Alchimist drehte den Hahn einer absonderlichen Apparatur auf. »Wen brechen?«
»Den Fluch!« Tanguy deutete auf seinen Hals, wo er glaubte, gebissen worden zu sein. »Kannst du es umkehren?«
Es dauerte, bis Szomor antwortete: »Ich fürchte nein, Mocsár. Dieser … Fluch ist mehr als das. Es sind dämonische Kräfte dabei im Spiel, die man nicht leicht täuschen oder einfach überwinden kann. Vampirdasein ist keine Krankheit, die sich mit der passenden Medizin kurieren lässt.« Er wandte den Kopf und sah ihn an. »Meine Mutter versuchte es einst auf Bitten eines Vampirs, aber sie scheiterte. Der Trunk wirkte nicht.«
»Das wird den Untoten nicht erfreut haben.«
Szomor zuckte mit den Achseln und richtete sich zu seiner hünenhaften Größe auf. Tanguy hatte den Eindruck, dass er nach vorn abknickte, wenn er sich zu schnell bewegte. »Er starb unter schrecklichen Schmerzen. Deswegen hatte sie es nie mehr probiert.« Er schlurfte um den vollgestellten Tisch und ging hinter den Gläsern, Tuben und Flaschen vorbei, was ihm die groteskesten Figuren verlieh.
»Wissen die Vampire selbst, wie man den Fluch abschüttelt?« Tanguy wollte sich nicht geschlagen geben. Er hegte die Hoffnung, am Ende seiner Rache als Mensch weiterleben zu können, um nicht länger auf der Suche nach Blut die Unschuldigen ermorden zu müssen. Sonst wäre er nichts Besseres als die Räuber. Und seine Seele hätte er auch gerettet.
Aber sicher! Die Bande!
Malo hatte ihn zum Vampir gemacht, also wusste er vielleicht, wie er entkam. »Was ist …«
»Das weiß ich nicht«, gab Szomor abwesend zurück und befand sich in Gedanken längst bei neuen Experimenten. Er hatte verkündet, seine Geschwindigkeit durch einen Trank oder eine Salbe für die Beine erhöhen zu wollen, um mit Tanguy mithalten zu können. Wenn sie im Sumpf um die Wette rannten, verlor sein Mentor regelmäßig. Das Ringen gewann er nur durch Tricks, nicht durch Kraft.
»Man müsste einen von ihnen fragen«, murmelte Tanguy vor sich hin und klappte das Büchlein zu. Er ging zur Tür. »Mit deiner Erlaubnis nutze ich den Sturm«, sagte er laut. »Möglicherweise habe ich eine Eingebung, wie ich die Wolken beherrschen oder die Blitze leiten kann.«
»Fleißig, mein Schüler. Doch pass auf, dass der Blitz nicht
in
dich einfährt.« Szomor klang zerstreut. »Und achte auf die Werwölfe.« Dann lachte er. »Nur ein Spaß. Ich sagte schon mal: Wir haben keine Werwölfe in Guérande.«
Tanguy hielt den Riegel schon in der Hand. »Ich denke, es ist bei ihnen das Gleiche wie bei Vampiren.«
»Wie?« Der Kopf des Hexers schwebte über einer Reihe von Glaskolben, die er sorgsam verschloss.
»Die Legenden sagen, dass die Gebissenen selbst zum Werwolf werden.«
»Das ist wahr. Aber nur, wer gebissen wird und es
überlebt
, wandelt sich in eine Bestie. Um ein Vampir zu werden, muss ein Mensch sterben.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Man könnte meinen, Vampire und Werwölfe hätten manches gemeinsam. Ich glaube, es gibt Vampirarten, die man auch mit Silber vernichten kann.«
Tanguy fürchtete, dass eine neue theoretische Lektion folgte. Dabei wollte er unbedingt die Räuber finden. Er öffnete die Tür. »Ein anderes Mal. Ich muss üben.«
»Nimm die Leiche mit«, rief ihm Szomor nach.
»Ein anderes Mal.« Er trat hinaus in die Nacht, in der das Rauschen des Schilfs ertönte. Eine ständige Begleitmusik, vertraut und beruhigend.
Tanguy Guivarch hat es bestimmt ebenso gemocht.
Seit er herausgefunden hatte, dass Szomor der Riese war, fühlte er sich frei von jeglicher Angst. Es gab in der gesamten Brière nichts Schlimmeres als ihn, den Vampir. Kein Mensch, kein Raubtier konnte sich mit ihm messen. Ein König durchstreifte sein Reich.
Er rannte über das Moor, setzte in großen Sprüngen von Graspolster zu Graspolster, überwand gefährliche Sumpflöcher und nahm Abkürzungen quer durch den Halmwald.
Es dauerte lange, bis er bemerkte, welchen Weg er unbewusst eingeschlagen hatte: Binnen kürzester Zeit hatte er den
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