Judassohn
Verwandten. Das letzte Mal hatte Tanguy ihn vor zehn Jahren gesehen. Mariette und er hatten sich zerstritten.
Vielleicht wegen der Vampirsache?
Tanguy sprang auf und rannte zur Tür. »Ich … wir sehen uns bald. Kann sein, dass ich im Sumpf übernachte. Ich möchte nochmehr ausprobieren.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, verließ er das Haus. Er hatte dem Hexer nicht sagen wollen, wohin er ging.
Und warum.
Für Tanguy war es seltsam, die Brière zu verlassen und nach Nordwesten zu gehen, um das Dörfchen zu erreichen. Sich nicht jederzeit ins schützende Moor zurückziehen zu können machte ihm zu schaffen.
Dazu kam der Umstand, dass er zwar überschnell lief, aber nicht überschnell reiste.
Denn das Wetter meinte es nicht gut mit ihm und seinen Plänen. Seit seinem Aufbruch regnete es stark, die Erde konnte das viele Wasser nicht aufnehmen. Überall entstanden kleine Rinnsale, denen er ausweichen musste. Ein Vorbeikommen gab es nicht. Fließendes Wasser. Er bekam erneut gezeigt, dass er zwar mächtig war, aber es auch für ihn Grenzen gab. Die Natur ließ sich weder von gefährlichem Fauchen noch langen, scharfen Zähnen beeindrucken. Um Fougeray zu erreichen, musste er gewaltige Umwege in Kauf nehmen.
Als der Regen endlich nachließ, war Tanguy regelrecht durchgeweicht und ärgerte sich.
Wenn ich das Manipulieren der Wolken oder das geisterhafte Schweben so abrufen könnte, wie ich will!
Es hätte ihn interessiert, ob er in seiner durchschimmernden Gestalt einfach über die Bächlein und Flüsse hinwegziehen würde. Sicher war, dass er den Rückweg in dieser Nacht keinesfalls schaffen würde.
Fougeray tauchte vor ihm auf. Ein kleines Nest voller Bauern.
Ich hoffe, er lebt noch.
Der Alte hatte Tanguy vorgeschwärmt, wie die Bretonen vor eintausend Jahren einen englischen König besiegt hätten. Damals war die Bretagne ein eigenes, mächtiges Königreich geworden.Da rauf waren die Menschen ebenso stolz wie auf die Überreste des Schlosses, von dem sich die sieben Türme noch in die Höhe stemmten und weithin sichtbar waren.
Die letzten Wolken schwanden, dunkelblauer Abendhimmel kam zum Vorschein.
Man könnte denken, es hat nur geregnet, damit ich länger brauche, um hierherzukommen.
Er gelangte in den Ort, dessen Anblick sich kaum von Kerhinet unterschied – nur dass es eben etliche Gebäude mehr waren. Ansonsten sah er Granithäuser mit Reetdächern, er hörte das Vieh in den Ställen brüllen. Hier und da drang Gesang aus offenen, beleuchteten Fenstern, dann wieder vernahm er Fetzen von Gutenachtgebeten. Fledermäuse zogen in lautlosem, taumelndem Flug über die Straße und jagten Insekten.
Nichts hat sich geändert.
Tanguy hatte Fougeray genau so in Erinnerung und eilte auf der matschigen Straße weiter.
Fehlen nur noch die älteren Männer, die bei einem Glas Wein vor einem Haus sitzen und plaudern. Über die Ernte, über das Vieh, über das Wetter.
In der Nähe der monumentalen Schlossreste wohnte Monsieur Albert Pirot. Sein Großvater.
Tanguy war gespannt, wie er heute aussah. Er hatte ihn als kräftigen, dunkelhaarigen Mann in Erinnerung, der in einem Nachbarort von Kerhinet gelebt hatte, unmittelbar an der Brière.
Ist es das?
Das Haus rückte näher, und er verfiel in eine für ihn unerträglich langsame, menschliche Geschwindigkeit, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Dem Gestank nach hielt sich Albert Ziegen. Es roch außerdem nach erhitztem Käse und frisch gebackenem Brot. Er kam recht zum Abendessen. Die Vorhänge an den Fenstern waren zugezogen,die Läden nicht geschlossen, so dass er einen Schatten am Tisch sitzen sah. Leise Männer- und Frauenstimmen führten eine Unterredung.
Er klopfte gegen die einfache, grün bemalte Tür.
Sofort endete das Gespräch. Ein Stuhl wurde zurückgeschoben, und Schritte polterten heran.
Der Eingang öffnete sich, und er sah in das gealterte, aber dennoch bekannte Gesicht seines Großvaters, dessen Haare weiß wie die Gischt geworden waren. Sein grobes Hemd hing aus der schwarzen Hose, die Füße steckten in Pantoffeln. »Was möchtest du, junger Monsieur?«
Er lächelte und hob die Arme. »Grandpère!«
Die blauen Augen musterten ihn zunächst, ohne ihn zu erkennen. Es dauerte wohl, bis Albert begriff, wen er vor sich sah. Doch er schien sich nicht zu freuen. Blitzartig schnappte er ihn an der nassen Jacke und schüttelte ihn.
»Verschwinde, bevor ich die Hunde auf dich hetze!«, fuhr er ihn an und stieß ihn von sich.
»Grandpère? Ich
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