Judassohn
Börsenspekulanten, Händler, Geschäftsleute gibt, die eine Menge Blut aus dem Volk heraussaugen, aber diese Herren sind überhaupt nicht tot, allerdings ziemlich angefault. Diese wahren Sauger wohnen nicht auf Friedhöfen, sondern in wesentlich angenehmeren Palästen.«
Die Worte waren fast zwanzig Jahre alt und trafen noch immer.
Weil Dominic wissen wollte, was Vampyre waren, hatte er alte Zeitschriften gelesen. Früher, in den Dreißigern, waren Vampyre en vogue gewesen. Bis dahin hatte man kaum gewusst, was diese Wesen waren und woher sie kamen. Aber nach dem Vorfallin Medvegia, dem kleinen Serbendörfchen an der Grenze zu den Osmanen, in dem ein Dutzend Untote Jagd auf die Einwohner gemacht hatten, hatte sich die Kunde davon verbreitet. Theologen, Philosophen, Gelehrte jeglicher Art, Kirchenleute, Ärzte – sie hatten ihre Theorien dazu vorgetragen. Dominic sah sich als Beweis, dass es Vampyre gab. Aber er vertraute sich niemandem an.
Nun gehöre ich selbst dazu. Zu diesem Mythos. Aber ich bin keine erfundene Spukgestalt.
Er rieb über den klobigen Siegelring am linken Mittelfinger. Sein Erbe würde er nicht mehr antreten können. Nicht als Vampyr.
Seine Kehle fühlte sich trocken an, trocken und heiß. Das übliche Verlangen meldete sich, und diesen unbändigen Drang nach Blut fand Dominic sehr unangenehm.
Er konnte sich nicht beherrschen, mordete und trank den Lebenssaft von Menschen. Tierblut schmeckte ihm nicht. Er hatte es versucht, um Männer, Kinder und Frauen zu schonen. Es hatte nicht funktioniert; dafür wusste er, was er besonders lecker fand: junge Damen, zwischen sechzehn und fünfundzwanzig Jahren. Die brünetten mundeten ihm am besten.
Ich muss trinken.
Er hatte Frèderic absichtlich jetzt schon die Männer holen lassen, die in einem kleinen Lager zehn Meilen außerhalb von Paris warteten. Der Durst machte ihn allmählich unruhig, gereizt. Sein Blick fiel auf die Weinflasche. Der Alkohol gab ihm nichts mehr.
Im ersten Jahr seiner neuen Existenz hatte er sich die Frage gestellt, warum ihn der Fluch getroffen hatte, und mit Gott und sämtlichen höheren Mächten gehadert. Aber die Vorteile überwogen seines Erachtens. Mit jeder Nacht war er besser geworden, und er ahnte, dass er den Gipfel seines Könnens noch lange nicht erklommen hatte: schneller, stärker als jeder Mensch undso gut wie lautlos, wenn er sich bemühte. Seine Sinne nahmen wesentlich mehr wahr als früher. Dabei ließ ihn das Gefühl nicht los, dass weitere Gaben in ihm steckten, die er erst entdecken oder erwecken musste.
Dominic sah plötzlich Fackeln, die von allen Seiten durch die Gassen strömten.
Der Mob hat sich organisiert?
Er lehnte sich aus dem Fenster und verfolgte den Weg der Menschen. Eine Schlange mit einem schimmernden, leuchtenden Leib wand sich durch das Häusergewirr und hielt auf die Festung zu, die von den Menschen Bastille Saint-Antoine genannt wurde.
Dominic wusste, dass sie einst eine Stadttorburg gewesen war und als Gefängnis diente.
Vierhundert Jahre alt.
Vom Fenster aus konnte er einen Blick darauf werfen.
Saß nicht auch Voltaire darin ein?
Er fand die Bastille mit ihren acht Zinnentürmchen hübsch und irgendwie herrlich anachronistisch. Ein Bollwerk, umgeben von einem Wassergraben und mit Zugbrücke, das von Häusern mehr oder weniger umschlossen war. Die moderne Bürgerlichkeit rückte der alten Zeit auf die Pelle.
Die Menschen hatten Waffen dabei, immer wieder dröhnten Pistolen- und Musketenschüsse.
Was haben sie denn vor? Ist es mit der Unruhe schon so weit gediehen, dass sie etwas stürmen wollen?
Seines Wissens saßen eine Handvoll Insassen darin, von denen keiner politische Ambitionen gezeigt hatte.
Bis Frèderic mit den Männern zurückgekommen wäre, würde er wieder im Zimmer sein. Die Pistolen steckte er in den Gürtel und warf sich die leichte Jacke über, damit nicht jeder die Waffen sah; rasch machte er sich auf.
Unbemerkt trat er aus dem
Moulinette
hinaus auf die Straßeund tauchte in den Strom ein. Er wurde zu einem Teil der Schlange und eilte auf die Bastille zu. Aus Neugier und Durst.
***
Sandrine hatte gar nicht mit der Menge ziehen wollen, aber sie suchte verzweifelt nach Anjanka. Auf dem Vorplatz der alten Festung hatte sie die Tenjac aus den Augen verloren, und die Sorge nahm angesichts des Aufruhrs zu.
Ich hätte sie nicht so anfahren dürfen! Ich Närrin!
Sie machte sich schwere Vorwürfe, weil ihre Eifersucht den nächsten Streit ausgelöst
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