Judassohn
hatte. Der wievielte es war, wusste sie nicht. Sandrine zählte nicht mehr. Aber der Auslöser ging stets von ihr aus: Sie sah Anjanka mit einem Mann oder einer anderen Frau, und schon wurde sie unausstehlich. Mörderisch.
Obwohl sie um ihre unerschütterliche Liebe wusste, sah sie dennoch in jedem, der sich Anjanka näherte, einen Rivalen, einen Angriff auf ihr vollkommenes Glück, das sie verteidigen wollte und musste. Auf tödliche Art und Weise. Es gab dann keinen klaren Gedanken mehr, nichts konnte Sandrine und die unerklärliche Angst vor dem Verlust beschwichtigen. Aus der Angst wurde rasende Wut auf die Unbekannte oder den Unbekannten, die es wagten, ihre Geliebte für sich einnehmen zu wollen. Nichts hielt Sandrine in diesem Zustand auf. Vier Männer und sieben Frauen hatte sie umgebracht: ausgesaugt und zerfetzt, unsinnig brutal in Stücke gerissen und in die Seine geworfen, damit auch die letzten Reste der Bedrohung weggetrieben wurden.
Danach kam es ihr immer vor, als erwachte sie aus einem fürchterlichen Traum, in dem sie eine gänzlich andere Person gewesen war …
Sandrine stieß zwei Bürger zur Seite, die ihr nicht schnell genug Platz machten. Sie musste achtgeben, um ihre Kräfte nicht einzusetzen.
Wie kann ich diese Eifersucht bekämpfen, bevor ich ihr etwas antue? Das könnte ich mir nicht verzeihen!
Um sie herum schrie und tobte der Mob. Die Parisiens hatten versucht, die Bastille zu erstürmen, waren aber von der Besatzung zurückgeschlagen worden. Seitdem strömten immer mehr Bewaffnete auf den Platz und drängten sich um den Burggraben. Immer wieder feuerten sie sinnlos auf die dicken Mauern, anstatt einen Plan zur Einnahme zu erstellen.
Die Gerüche und der Gestank um Sandrine herum waren zu stark, sie nahm den zarten, lieblichen Duft ihrer Geliebten nicht wahr.
Sie wird mich doch nicht verlassen haben?
»Anjanka!«, rief sie voller Schuld und Furcht, ihre Stimme nicht mehr hören zu dürfen. »Es tut mir leid, hörst du? Ich bessere mich!«
Einige der Umstehenden lachten und äfften sie nach.
Seid still! Ihr habt keine Ahnung, wie es mir ergeht!
Sandrine schlug dem Mann, der am lautesten lachte, mit der Faust ins Gesicht und brach ihm die Nase; er stürzte bewusstlos nieder. Die Frau, die sie nachgeahmt hatte, bekam ihren Ellbogen gegen die Lippen. Es knirschte, Zähne kullerten auf den Boden.
Bevor man sie packen konnte, hatte Sandrine sich ihren Weg weiter vorangebahnt und schob die Menge mit ihrer überlegenen Körperkraft auseinander.
»Anjanka!«, schrie sie. Mutlosigkeit breitete sich in ihr aus. Dieses Mal fühlte es sich für sie an, als habe die Tenjac sie verlassen. Angedroht hatte sie es mehrfach.
Sandrine kämpfte sich zur Seite durch und setzte sich in einen Hauseingang, stützte den Kopf auf die Hände.
Wie finde ich sie?
Sie wünschte sich beinahe wieder zurück ins Gévaudan, trotz der beiden Bestien, denen sie knapp entkommen war.
Im Nachhinein betrachtet, war es die beste Zeit ihres gemeinsamen Lebens gewesen, aber das hatten sie zu Beginn ihrer Reise zu den Deutschen nicht ahnen können.
Sie hatten eine wahre Odyssee hinter sich gebracht, immer auf der Flucht vor Hexenverdächtigungen. Manchmal schien es Sandrine, dass die Leute ihr ansahen, welche Flüche sie zu bringen vermochte. Vielleicht hatten die Deutschen einen besseren Blick dafür. Egal, in welches Grafen- oder Herzogtum oder Königreich sie gekommen waren, länger als ein paar Monate hatten sie nicht an einem Ort verweilen können, bis Männer mit Fackeln vor ihr Haus gekommen waren, um sie zu verjagen. Verzerrte Gesichter, Hass in den Stimmen und die Bereitschaft, die beiden Frauen zu verbrennen, wenn sie nicht freiwillig gingen. Es war schlimmer als in Frankreich gewesen. Rastlos, ruhelos. Dabei hatten sie sich nur nach einem Ort gesehnt, an dem sie bleiben konnten. Gemeinsam.
Die höheren Mächte haben sich gegen uns verschworen. Was haben wir ihnen getan?
Sandrines Rettung vor der Verzweiflung war Anjanka gewesen, die sie mit ihrem Leib und ihren Worten, mit ihrer unerschütterlichen Liebe aufgebaut hatte. Aber gleichzeitig nutzte die Tenjac ihre verführerischen Kräfte, um ihnen unbemerkt Blut von den Lebenden beschaffen zu können. Gegen Sandrines Willen.
Vor den deutschen Hexenjägern hatten sie sich zurück ins unruhige Frankreich begeben und waren über Umwege nach Paris gekommen. Sandrine hoffte, in der Anonymität der Großstadt ihrer Arbeit nachgehen zu können, ohne sogleich
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