Judastöchter
hatte, hob sich leicht, der Lauf zielte auf die Killerin.
»Jeoffray!«, erklang der Ruf einer hellen Stimme durch den Verkehrslärm. »Hier drüben!«
Wilsons und Blacks Köpfe schnellten gleichzeitig herum.
* * *
6. Februar, Großbritannien, Republik Irland,
Arklow, 00.23 Uhr
Sie sieht anders aus als bei unserem ersten Zusammentreffen. Harmlos und zerbrechlich.
Eric saß Sia gegenüber in der Raststätte und beobachtete, wie sie geistesabwesend an einem Kaffee nippte. Den X6 hatte er versteckt zwischen den Lkws geparkt.
Sie trug die Kleidung, die er unterwegs in einem Shop am Motorway gekauft hatte, und erschien damit als eine Touristin von unendlich vielen: wandern, um die irische Landschaftsschönheit zu Fuß zu erkunden. Kein auffälliges Schwarz oder andere lässige Outfits, mit denen man inmitten von Schafen, viel Grün und normal angezogenen Menschen auffallen würde. Das perfekte Paar.
Check.
Sie waren viele Meilen gefahren, um Distanz zwischen sich und Wicklow sowie Ruhe ins tödliche Spiel zu bringen. Gedanken ordnen, das Herz und die Seele der Vampirin beruhigen.
Eric räusperte sich. »Möchtest du reden?« Sie duzten sich seit Sias Befreiung aus dem U-Boot wie selbstverständlich.
Sia lächelte ihn an. »Wie süß. Ein verständnisvoller Mann.«
»Süß?
Danke auch. Jetzt fühle ich mich ehrlich männlich.« Er lächelte ihr zu. »Ich habe mir das U-Boot angeschaut, bevor wir gefahren sind. Die Bedienungskontrollen stehen unter Wasser und sind garantiert im Arsch. Damit tauchst du nirgendwo mehr hin.«
»Ich weiß. Das ist ein Problem.« Ihre Hand legte sich um den Zuckerstreuer und drückte, bis mit einem leisen Knistern Risse im Plastik entstanden. »Und es bedeutet, dass du unter Umständen alleine auf Elena und Emma aufpassen musst, sobald wir sie gefunden und befreit haben. Mit viel Pech muss ich alleine nachkommen. Je nachdem, wie es läuft.«
»Wird schon. Jetzt lob mich mal. Es sind zwei Namen weniger auf der Liste, während du auf der faulen Haut gelegen hast und …« Er nahm sich zurück.
Lass sie. Ihr steht nicht der Sinn nach Sticheleien.
»Es muss schlimm gewesen sein. Da unten. Alleine.« Er sah ihr in die grauen Augen.
Sie presste die Lippen fest zusammen, atmete tief durch, bevor sie antwortete. »Es war schlimmer als alles, was ich bisher erlebt habe.«
»Dachte ich mir. Ich hatte die Befürchtung, dass es dich an die Zeit im Sarg erinnert …«
Sias Mundwinkel wanderten nach oben. »Oh, ich lag nicht im Sarg. Ich war eine sehr junge Frau, der ein paar übereifrige Dörfler unter der Führung des Popen einen Pflock durchs Herz gerammt haben.«
»Bevor du ein Vampir gewesen bist?«
Sie nickte. »Sie haben mich zu einer Judastochter gemacht. Das ist doch Ironie, oder? Wer weiß, was aus mir geworden wäre …«
Wie alt sie wohl ist?
»Wann ist das gewesen?«
Sia sah plötzlich müde und traurig aus. »Ende des siebzehnten Jahrhunderts. Mein Name lautete Jitka, als ich ein Mensch war. Danach nannte ich mich Scylla.«
Wie war das noch gleich mit dieser Sage? Charybdis …
»Ein Monstrum, das aus Rache Menschen verschlingt?« Eric schaute sich mit einem schnellen Blick im Lokal um. Weder Polizisten noch jemand, der sich für sie interessierte.
Gut. Dennoch sollten wir nicht zu lange bleiben.
»Damals hielt ich es für einen passenden Namen. Die Menschen hatten meine Wut verdient, nachdem sie meinen Vater vernichtet hatten. Ihn und das gesamte Wissen, das er angehäuft hatte. Er war kein schlechter Vampir und hatte sich von den anderen zurückgezogen, soweit es ihm möglich gewesen war.« Sie umklammerte nun die Kaffeetasse und starrte auf das schwarze Gebräu, als tauchte daraus ihre Geschichte auf. »Verrückt. Wie lebendig doch die Erinnerung sein kann«, raunte sie.
Ich muss sie unentwegt anschauen.
Eric hörte gebannt zu und konnte den Blick nicht abwenden. Er fand Sia attraktiv … und … fühlte mehr für sie. Viel mehr, als es gut für sie sein konnte. Der Drang war ihm wohlbekannt, aus einem anderen Abschnitt seines Lebens. Hunger. Echter Hunger, der ihn alles vergessen lassen konnte und ihm jegliche Zurückhaltung raubte; der ihn so lange wüten ließ, bis er Blut und Fleisch zwischen seinen Zähnen zerfetzen konnte; bis er satt war.
»Er hat mich vieles gelehrt, und danach haben andere meine Ausbildung übernommen«, erzählte sie leise weiter. »Ich habe viele Vampire vernichtet und Kämpfe bestanden, aber … die Angst vor dem Wasser ist die
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