Judastöchter
dran als sonst, als sie den weißen Kittel zuknöpfte und in die bequemen Slipper schlüpfte.
Die paar Minuten würde ihr die Zeiterfassung nicht nachsehen, aber es war nicht anders gegangen. Ihr kotzender Hund hatte verhindert, dass sie pünktlich im Krankenhaus erscheinen konnte. Sie war umzingelt von Pflegefällen, daheim und beruflich. Aber jemand musste sich kümmern.
Schwester Hildegard verließ die Umkleide, steckte die Packung Lutschpastillen ein, weil sie schon seit einiger Zeit unter Halsschmerzen litt.
Sie trat auf den Flur, von dem sie jeden Riss im Boden und jede Fuge an der Wand kannte, und marschierte los, um zur Pflegerstation zu gehen. Es roch nach Frühstück, das die Nachtschicht noch schnell verteilt hatte. Hildegard und ihr Team würden die Tabletts wieder einsammeln. Zur Übergabebesprechung kam sie jedoch zu spät. Das ärgerte sie am meisten.
Hinter ihr öffneten sich die Türen des Fahrstuhls, der für die Lasten vorgesehen war, und sie schaute sich um, wie sie es immer tat. Konnte sein, dass jemand ihre Hilfe brauchte.
Ein Pflegerteam erschien, bestehend aus zwei sehr kräftig gebauten Männern mit kurzgeschorenen Haaren und einer Frau. Sie unterhielten sich leise miteinander, die Brünette hielt ein Klemmbrett. Die Gruppe gehörte nicht zur Klinik.
Hildegard blieb stehen und wartete, bis sie auf gleicher Höhe waren. »Guten Morgen«, grüßte sie das fremde Pflegerteam und stellte sich so, dass man
Oberschwester
auf ihrem Namensschild lesen musste. Die Frau, die wie alle anderen einen Besucherausweis trug, nickte ihr zu und wollte vorbeigehen. »Kann ich Ihnen helfen?«
Die Brünette blieb stehen, die Männer setzten ihren Weg zur Pflegerstation fort. »Sind Sie die Verantwortliche?«
»Ja.« Hildegard rätselte über das Team. »Und was möchten Sie hier?«
»Ich bin Schwester Maria.« Die Brünette hielt ihr das Klemmbrett entgegen, auf dem ein ausgefülltes Aufnahmeformular für das Park-Krankenhaus festgemacht war. »Wir haben den Auftrag bekommen, Frau Emma Karkow zu überführen.«
»Bitte?« Hildegard nahm die Unterlagen an sich und überflog sie. Es hatte alles seine Richtigkeit. Ausgefüllt und unterschrieben waren sie von Theresia Sarkowitz. Schlimm genug, wenn ein Krankenhaus einen Patienten an ein anderes abgeben musste. Noch schlimmer war es, wenn das die eigenen Mitarbeiter veranlasst hatten. Als Grund war angegeben worden:
Bessere medizinische Betreuung erwünscht.
Ein Stich in Hildegards Herz und in ihre Fachkompetenz.
»Kann ich die Papiere zurückhaben?«
Diese persönliche Verletzung machte Hildegard sensibler – und sie wurde unsicher.
Sie hatte erfahren, was Sarkowitz und Oberarzt Sascha ausgemacht hatten, die Dialyse, die Spenderniere. Gemeinsam waren Pläne geschmiedet worden – und sollten von Sarkowitz innerhalb von zwölf Stunden über den Haufen geworfen worden sein?
Bessere medizinische Betreuung als unter ihrer Aufsicht gab es nicht. Die Angehörigen eines Klinikmitarbeiters erhielten sogar mehr Aufmerksamkeit als ein vollkommen fremder Patient, das lag auf der Hand. Aus dem Grund gelangte Hildegard zu der Ansicht, dass die Verlegung keinen Sinn machte, weder medizinisch noch aus privaten Gründen. Sie bemerkte, dass die Unbekannte nervös ihren Nacken rieb und zu ihren Begleitern schaute. Mit rechten Dingen ging es hier nicht zu.
»Einen Moment«, sagte Hildegard, ohne das Brett loszulassen, und ging zur Pflegerstation. Aber Schwester Maria folgte ihr, und auch die beiden bulligen Männer waren angekommen und warteten.
»Stimmt etwas nicht?« Maria klang genervt.
»Nein, nein. Alles bestens. Ich muss nur kurz …« Sie konnte sich getäuscht haben, aber die Handschrift auf dem Formular vor ihr kam ihr gänzlich unbekannt vor. Theresia Sarkowitz schrieb altertümlicher, eine Mischung aus Sütterlin und Standardschreibschrift. Hildegard suchte den Ordner, in dem die Nachtwachen ihre Berichte ablieferten und unterschrieben. Mit der anderen Hand nahm Hildegard den Hörer vom Telefon, beiläufig und unauffällig. Es musste aussehen, als würde sie mit der Zentrale über Banalitäten sprechen.
Das Freizeichen erklang.
Sie schlug einen Ordner auf, blätterte, fand einen Eintrag von Sarkowitz, und ihr wurde kalt. Eine falsche Unterschrift! Sie ähnelten sich nicht mal im Ansatz. Daraus schloss sie: Jemand wollte Emma Karkow entführen!
Maria machte ein ungeduldiges Gesicht. »Kann ich Frau Karkow jetzt mitnehmen? Wir haben noch eine
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