Judastöchter
Greifen nahe, süß und lecker, mit weichen Knochen, die sich leicht verdauen ließen.
Den Geräuschen nach näherte sich von der anderen Seite ein Motorrad. Boída war eingeschlossen, jede ihrer Bewegungen wurde gesehen. Auf sie gerichtete Aufmerksamkeit konnte sie nicht gebrauchen. »Hier!«, rief sie den Müllmännern zu. »Es gab einen Unfall.« Sie beugte sich zur Mutter und drehte sie auf den Rücken. Die Lider flatterten, die junge Frau erwachte. »Achte gut auf dein Kind«, flüsterte Boída ihr ins Ohr. »Eine zweite Begegnung mit mir wird es nicht überleben. Jetzt geh nach Hause und feiere seine zweite Geburt.«
Als die Männer bei ihr angekommen waren und auch der Motorradfahrer neben ihr hielt, um seine Hilfe anzubieten, zog sich Boída zurück. Hungrig und schlechtgelaunt lief sie auf die Hauptstraße zurück zu ihrem Wagen.
»Ganz schlecht«, murmelte sie gereizt. Sie stieg ein und fuhr los, zurück nach Omagh, und hatte den lockenden und lange nicht mehr gekosteten Babygeschmack noch immer am Gaumen. Sie musste ihn mit etwas anderem übertünchen, sonst würde sie ausrasten!
Als sie unterwegs an einem Viehmarkt vorbeikam, konnte sie nicht anders.
Boída hielt, ohne zu zögern, an und kaufte sich eine Kiste mit frischen, jungen Küken. Sie waren noch nicht alt, rochen unschuldig, lecker. Weder das knuddelige Aussehen noch das helle, feine Rufen würde sie retten. Dreißig natürliche Snacks für unterwegs. Chicken Nuggets, die es so in keinem Fast-Food-Restaurant geben würde.
* * *
3. Februar, Deutschland,
Sachsen, Leipzig, 02.21 Uhr
Sia betrat das Foyer des Gründerzeitgebäudes, das im Viertel Connewitz, in der Nähe des sogenannten Kohlrabizirkus lag. Draußen konnte man die beiden Rundhallen ausmachen.
Lange her, dass ich in dieser Region der Stadt gewesen bin.
In den zwanziger Jahren, das wusste sie genau, feierte man die beiden Gebäude als größte feste Kuppelbauten der Welt. Einst Orte, an denen der Großmarkt seine Waren umgeschlagen hatte, waren sie Veranstaltungsorte geworden. Von der Eishalle bis zum Musikevent.
Noch älter war das Haus, in dessen üppigem Flur sie stand. Eric hatte den BMW in der eigenen Tiefgarage geparkt, sie waren ausgestiegen und die Treppen in den Flur hinaufgestiegen. Vier Stockwerke hatte
das Haus, und niemand sonst nutzte es, wie er ihr gesagt hatte.
Wessi-Größenwahn.
»Wohin?«
Eric zeigte nach rechts. »Gehen wir gleich ins Arbeitszimmer.« Er übernahm die Führung. »Kaffee oder so etwas? Brauchen Vampire das, um wach zu bleiben?«
Sie grinste. »Ich trinke ihn einfach gerne. Sofern er gut gemacht und nicht bitter ist.«
»Sagen Sie das meiner Kaffeemaschine.« Eric öffnete die Tür und ließ ihr den Vortritt. »Schwarz?«
»Ja bitte. Nur keine Umstände.«
»Alles klar. Bin gleich wieder bei Ihnen.« Er verschwand aus ihrer Sicht, und Sia blickte sich um.
Das Arbeitszimmer war geschätzte fünf Meter hoch, ein klassischer Altbau. Früher könnte es mal ein Salon oder das Speisezimmer der Herrschaften gewesen sein. Meisterlicher Stuck an den Decken, dunkle Holzvertäfelungen am unteren Wanddrittel und darüber Stofftapeten in einem floralen Edelmuster, wie es gerade wieder aktuell wurde.
Man könnte ein Tennismatch austragen, so viel Platz ist hier.
Sia fand, dass weder die zusammengeschobenen Aluschreibtische noch die unlackierten Blechaktenschränke wirklich zu dem Ambiente passten. Wie ein Warhol-Gemälde zwischen einem Botticelli und einem Rembrandt. Der Kronleuchter an der Decke bildete einen Widerspruch zu den Stehleuchten, in denen Sia LED -Lampen sah. Betagte Restopulenz gegen Nüchternheit und Effizienz.
Einen Innenarchitekten hat er nicht.
Sie zählte nicht weniger als drei Computer, zwei Scanner, zwei Faxgeräte und weiteres technisches Equipment, vom Fotoapparat mit diversen Objektiven bis hin zu …
Sind das Richtmikrofone?
Eine Kaffeemaschine gurgelte aus einem Nachbarzimmer und spie das heiße Getränk aus, der warme, kräftige Duft zog bis zu ihr und weckte Vorfreude.
Dann will ich meinen Mitstreiter ein bisschen besser kennenlernen.
Sia versuchte, die Schränke zu öffnen, doch sie waren abgeschlossen. Also schlenderte sie den Schreibtisch entlang und inspizierte die Ablagen.
Sie fand alles Mögliche darauf: Blätter mit gekritzelten Notizen, ausgedruckte Namen und Anschriften, Listen mit Orten und Zeitangaben, Zeichnungen, ausgedruckte Fotos. Und die Aufnahmen von Leichen, darunter auch die von de
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