Judaswiege: Thriller
Feuchtigkeit in seinen Augen. Er sagte nichts, aber sie wusste in diesem Moment, dass es kein Fehler gewesen war, heute Nacht herzukommen. Vielleicht konnte er es noch nicht erwidern, vielleicht ging ihm alles zu schnell, aber sie spürte eine Wärme hinter der Trauerfassade. Eine Wärme für sie.
»Ich kann dich heute nicht mit zu mir nach Hause nehmen, Pia. Nicht nach dem, was wir gesehen haben. Nicht heute.« Wieder wandte er sich von ihr ab, wollte sich in sein Schneckenhaus zurückziehen. Aber Pia ließ das nicht zu. Sie legte ihm einen Zeigefinger über die Lippen und flüsterte: »Nicht zu dir, das verstehe ich. Lass uns einen Drink nehmen in einer dieser schaurigen Bars hier. Nur einen Drink, wir können ihn beide gebrauchen, oder nicht?«
K APITEL 20
September 2011
East River Drive, New York City
Klara jagte mit Höchstgeschwindigkeit über den East River Drive. Auf der rechten Seite lag der Hudson glänzend in der Mittagssonne. Der starke V8 ihres Mittelklasse-Mercedes hatte keine Mühe mit den hundertzwanzig Sachen auf der stark befahrenen Schnellstraße, die östlich an Manhattan vorbeiführte. Wenn etwas aufgab, dann das Fahrwerk, stellte Klara fest und trat das Gaspedal noch etwas weiter durch. Während sie halsbrecherisch die Spur wechselte und ein wütendes Hupkonzert provozierte, wählte sie mit ihrer freien rechten Hand Sams Mobiltelefon. Es klingelte fünfmal, bis er endlich ranging. Im Hintergrund hörte sie die surrenden Motoren eines Düsenjets. Sam war auf dem Weg nach Louisiana, um mit Bennet die Scherben aufzusammeln, für die Truthleaks gesorgt hatte. Gopher-Tape Nummer vier zeigte ein neues Opfer, die Bilder waren grausamer als je zuvor. Ihr Täter steigerte sich, und Sam würde den Eltern einiges zu erklären haben, sie beneidete ihn nicht darum.
»Und, habt ihr euch entschieden, Sam? Ich bin gleich da.« Gleich war übertrieben, aber sie hatte die Erfahrung gemacht, dass es keinen Sinn hatte, dem bürokratischen FBI zu viel Zeit für Entscheidungen zuzugestehen. Die Entscheidung, die sie haben wollte, bekam sie entweder schnell oder gar nicht.
»Ich habe mit Marin gesprochen …«, antwortete Sam. Marin, das bedeutete nichts Gutes. Seit sie ihn mit den Bildern seiner heimlichen Liebschaften unter Druck gesetzt hatte, war er nicht mehr gut auf sie zu sprechen. Was sie zwar verstand, aber sie fand es dennoch reichlich unprofessionell.
» … und er ist unter den gegebenen Umständen einverstanden.« Das war eine echte Überraschung. Klara hätte es niemals für möglich gehalten, dass Marin dem zustimmen könnte.
»Setzt euch die Presse derart zu?«, fragte Klara.
»In der Zentrale können sie kaum aufs Klo gehen, ohne einem von der Journaille in die Arme zu laufen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie die Identität des vierten Opfers herausfinden. Bennet und ich sind auf dem Weg zu den Eltern, und Michael Paris sucht mit seinen gefiederten Freunden seit gestern Abend jeden Sumpf in Louisiana ab – bisher ohne Erfolg. Wir finden die Idee, dass du mit Stein gemeinsam die Truthleaks-Spur verfolgst, das einzig Sinnvolle in dieser Situation.«
»Okay. Dann machen wir das«, sagte sie und legte ohne ein weiteres Wort auf. Der Plan, den sie gestern mit dem Anwalt besprochen hatte, war mit heißer Nadel gestrickt, aber sie konnten die Chance nicht vertun, sie mussten es probieren: die Quelle von Truthleaks zu identifizieren. Es war ihre einzige heiße Spur im Moment, alle anderen losen Enden hatten sich im Sande verlaufen: Die Konstruktion der Autobombe? Fehlanzeige. Die Fotos im Netz? Die File-Sharing-Server waren voll davon. Und als sie Wesley gefragt hatte, warum seine Software nicht auch die Videos gefunden hatte, antwortete ihr Computerexperte mit einem herzlichen Gelächter. »Kannst du dir vorstellen, welche Rechenleistung notwendig ist, um alleine die Milliarden Fotos auf Übereinstimmungen zu scannen, Klara?«, hatte der junge Kollege gefragt. »Komm in zehn Jahren wieder, dann haben wir vielleicht was gefunden.« Ende der Diskussion. Klara nahm die Abfahrt nach der Queensborough Bridge und bog mit quietschenden Reifen links ab. Keine fünf Minuten später hielt sie vor Steins Kanzlei und hetzte die fünfstufige Steintreppe hinauf. Sie hatten keine Zeit zu verlieren, Sam rechnete jeden Tag mit dem nächsten Opfer. Während Wesleys Suchprogramm das Internet weiter nach Bildern von vermissten Mädchen absuchte, hielt sich die Geierstaffel von Michael Paris bereit.
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