Judaswiege: Thriller
schmächtiger rothaariger Junge, der tatsächlich ein wenig aussah wie der Fähnrich aus dem Fernsehen, nahm hektisch die Füße vom Schreibtisch und stapelte Papier auf den armen Burger. Banause, dachte Sam.
»Entschuldigen Sie, Sir. Das ist mein Mittagess…«
»Entspannen Sie sich, Fähnrich Crusher«, unterbrach ihn Sam. Hatte der Jungspund wirklich die Augen gerollt bei Fähnrich Crusher? Er konnte kaum älter sein als das Fernsehvorbild, vielleicht Anfang zwanzig. Die neu gegründete Cyber Crime Unit, die sich um Hacker und andere subversive Elemente des angebrochenen Jahrtausends kümmerte, brachte eine ganze Schar anders aussehender und vor allem jüngerer Kollegen zum FBI. Sam, der trotz seiner konservativen Ticks durchaus als aufgeschlossener Vertreter seiner Generation galt, freute sich darüber, obwohl er das kaum öffentlich zugeben würde. Für die Cyberjungs gehörte er mit seinen zweiundvierzig Jahren doch schon fast zum alten Eisen.
»Okay, Sir, kein Problem, Sir«, stammelte Wesley, der sich offensichtlich wieder gefangen hatte.
»Sag mal, kommst du vom Marineball, oder was ist los? Lass das Sir-Gesabbel und sag mir lieber, was es mit diesem Bildscanner auf sich hat, von dem du mir am Telefon vorgeschwärmt hast«, verlangte Sam und stellte zufrieden fest, dass es ihm gelungen war, Wesley zu verunsichern. Seine Taktik, wenn er auf einen der Frischlinge stieß, war stets die gleiche, und normalerweise funktionierte sie blendend. Bis auf Klara, da hatte es nicht geklappt. Schon wieder Klara. Verzieh dich aus meinem Kopf, wenigstens bis nach Feierabend, okay?
»Ähm«, stotterte der rothaarige Junge, »also. Wir testen gerade eine neue Technologie, die wir mit den Jungs von Google entwickelt haben. Einfach gesagt, ist es eine erweiterte Bildsuche im Netz, die dann mit unserer Vermisstendatenbank abgeglichen wird.«
Sam starrte ihn verständnislos an.
»Okay, also noch mal zum Mitschreiben«, setzte der Rothaarige neu an. Eine Frechheit, die ihm Sam normalerweise nie hätte durchgehen lassen, aber er hatte heute seinen gütigen Tag. Der Teenager zeigte auf einen Bildschirm auf seinem Schreibtisch: »Nehmen wir dieses Foto einer vermissten Person.« Es handelte sich um eine bildhübsche Frau mit spanischen Gesichtszügen. Wunderschön, korrigierte sich Sam selbst. »Und nehmen wir auf der anderen Seite«, er deutete auf einen zweiten Bildschirm, »eine umfassende Bildersuche im Internet: Firmenserver, private Homepages, soziale Netzwerke, das ganze Paket. Die Ergebnisse sehen Sie hier.«
Sam zog die rechte Augenbraue nach oben. Dieses Greenhorn wollte ihm also sagen, dass sie eine Person, die als vermisst gemeldet wurde und die am anderen Ende der Welt ein Facebook-Profil anlegte, finden könnten, oder etwa nicht? Darauf lief es hinaus. Sam musste feststellen, dass er an den Ausführungen des Computerfreaks zumindest mildes Interesse zeigte. Aber was hatte das mit ihm zu tun? Die Opfer seiner Klienten eröffneten keine Facebook-Seiten mehr. Nie mehr. »Behavioral Science Unit 2«, das hieß übersetzt: Serienmörder.
»Bei einem Testlauf mit Datensätzen des Violent Criminal Apprehension Program (ViCAP) haben wir Folgendes gefunden.« Er rief eine Datei auf, die den ganzen Bildschirm füllte.
»Heilige Scheiße«, murmelte Sam und setzte sich auf den freien Platz neben Fähnrich Crusher.
K APITEL 3
März 2011
Strafgerichtshof der Stadt New York, New York City
Pia Lindt goss nach. § 7 der Steinschen Prozessordnung lautete: »Ein leeres Glas hemmt den Strafverteidiger.« Und so viel hatte sie in den drei Monaten gelernt, die sie jetzt für Thibault Godfrey Stein und seine überaus prestigeträchtige Kanzlei arbeitete: Seine ureigene Prozessordnung war ihm wichtig, wenn nicht heilig. Und so achtete sie peinlich genau darauf, den Wasserstand nicht unter zwei Drittel sinken zu lassen und stets die korrekte Akte bereitzulegen.
Leider waren seine Kapriolen schwer vorauszusagen. Vor Gericht konnte der kleine, zerbrechlich wirkende Mann Haken schlagen wie ein aufgescheuchter Rehbock. Aber sie hatte den Job ergattert, den jeder ehrgeizige Strafrechtsstudent am meisten begehrte: Steins Assistent. Zum einen umwehte die Kanzlei ein legendärer Ruf, zum anderen wurde hinter vorgehaltener Hand kolportiert, dass Stein weder Nachfolger noch Erben ausgewählt hatte. Für die zielstrebigen angehenden Juristen, die über die Flure von Harvard, Yale oder Stanford hetzten, bedeuteten Prestige und Geld
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