Judith McNaught
nur
Küssen. Sie wußte nicht, was »niedere Bedürfnisse« waren, spürte aber instinktiv,
daß es um intensive und irgendwie skandalöse persönliche Gefühle ging. Und all
das teilte er mit einer anderen Frau, nur Stunden, nachdem er mit seiner
ungeliebten Verlobten zu Abend gegessen hatte.
Obwohl Miss Charity nun wußte, daß Lord
Westmoreland sich irgendwo im Ballsaal aufhielt, war sie noch genauso ärgerlich
auf ihn, als Sherry zurückkehrte, wie vorher. »Ich werde seiner Mama von
Langfords Betragen berichten, gleich morgen früh! Sie wird ihm schon den Kopf
waschen für das, was er sich heute abend geleistet hat!«
Stephen amüsierte Stimme ließ Sherry
vor ärgerlichem Erschrecken erstarren. Er stand auf einmal hinter ihnen. »Für
was wird meine Mutter mir den Kopf waschen, Ma'am?« fragte er Miss Charity,
wobei ein schwaches, ausdrucksloses Lächeln seinen Mund umspielte.
»Dafür, daß Sie zu spät gekommen
sind, Sie böser Junge!« antwortete sie, aber jede Spur von Beleidigung schwand
aus ihrer Stimme, als er ihr sein hinreißend attraktives Lächeln schenkte.
»Dafür, daß Sie zu lange bei den Schirmherrinnen stehengeblieben sind! Und
dafür, daß Sie absolut zu gut aussehen! Nun«, schloß sie und verzieh ihm
vollständig, »küssen Sie mir ordentlich die Hand und führen Sie Sherry auf die
Tanzfläche.«
Nicki hatte sie abgeschirmt, indem
er mit dem Rücken zum Saal stand, aber jetzt blieb ihm nichts anderes übrig,
als beiseite zu treten. Sherrys Arger wuchs, als sie hörte, wie leicht er Miss
Charity um den Finger wickelte, und er verstärkte sich noch, als sie sich
zögernd umdrehte und sich mit zwei amüsierten blauen Augen und einem Lächeln
von einer Wärme konfrontiert sah, daß es einen Eisberg hätte schmelzen lassen.
Da ihr bewußt war, daß alle im Ballsaal in ihre Richtung blickten, streckte
Sherry widerstrebend ihre Hand aus, weil es die Schicklichkeit erforderte.
»Miss Lancaster«, sagte er, drückte ihr einen kurzen Kuß auf den Handrücken,
hielt jedoch ihre Hand weiter fest, trotz ihrer Bemühungen, sie ihm wieder zu
entwinden, »darf ich Sie um das Vergnügen des nächsten Tanzes bitten?«
»Lassen Sie meine Hand los«, bat
Sherry mit vor Arger bebender Stimme. »Alle sehen herüber!«
Stephen musterte ihr gerötetes
Gesicht und die blitzenden Augen und wunderte sich, daß er noch nie bemerkt
hatte, wie großartig sie aussah, wenn sie ärgerlich war. Wenn er in den letzten
Tagen gewußt hätte, daß schon eine kleine Verspätung ihre Gleichgültigkeit in
Zorn verwandeln konnte, wäre er zu jeder Mahlzeit zu spät erschienen.
»Lassen Sie meine Hand los!«
Unwillkürlich grinsend, weil er
glücklich und sie offenbar so unglücklich über sein Zuspätkommen war, neckte
Stephen sie: »Wollen Sie, daß ich Sie auf die Tanzfläche schleife?«
Seine Befriedigung darüber schwand,
als sie ihre Hand freibekam und ihn anfauchte: »Ja.«
Für den Augenblick besiegt, trat
Stephen zur Seite, als ein junger Dandy sich an ihm vorbeidrängte und sich vor
Sherry verbeugte. »Ich glaube, der nächste Tanz gehört mir, wenn es Ihnen
nichts ausmacht, Mylord.« Da ihm keine andere Wahl blieb, trat er zurück. Sie
machte eine hübschen Knicks vor ihm und schlenderte zur Tanzfläche. Neben ihm
bemerkte DuVille amüsiert: »Mir scheint, Sie haben gerade eine vernichtende
Niederlage erlitten, Langford.«
»Da haben Sie recht«, erwiderte er
leutselig und lehnte sich an eine Säule hinter ihm. Er war so glücklich, daß
ihm sogar ein freundlicher Austausch mit DuVille amüsant anmutete.
»Ich nehme an, es gibt nichts Alkoholisches
zu trinken?« fragte er, während er zusah, wie Sherry mit ihrem Partner tanzte.
»Überhaupt nichts.«
Zur tiefen Enttäuschung aller
anderen im Saal schien weder Lord Westmoreland noch Nicholas DuVille geneigt
zu sein, jemand anderen als das amerikanische Mädchen zum Tanzen aufzufordern.
Als Sherry zu einem zweiten Tanz mit dem gleichen jungen Mann auf der
Tanzfläche blieb, fragte Stephen stirnrunzelnd: »Hat sie niemand gewarnt, daß
es ein Fehler ist, eine besondere Neigung zu zeigen, indem man zweimal mit dem
gleichen Partner tanzt?«
»Sie klingen langsam wie ein
eifersüchtiger Galan«, bemerkte Nicki und warf ihm einen amüsierten Blick aus
den Augenwinkeln zu.
Stephen ignorierte ihn. Er blickte
in all die hungrigen, gierigen, erwartungsvollen, hoffnungsvollen weiblichen
Gesichter, die ihn beobachteten, und fühlte sich wie eine menschliche
Mahlzeit,
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