Judith McNaught
Woche frei, und dafür arbeitete sie vom Morgengrauen bis elf Uhr abends und
erledigte eine endlose Reihe zusätzlicher Pflichten, die normalerweise
Näherinnen und Zofen statt Gouvernanten aufgetragen wurden. Sherry nutzte den
Aufruhr über das Fest, um für eine Weile in ihr Zimmer auf dem Dachboden zu
entkommen. Sie beugte sich über die Waschschüssel auf ihrer Kommode, wusch sich
das Gesicht und überprüfte, ob ihr Haarknoten noch fest war, dann setzte sie
sich an das kleine Dachbodenfenster und griff zu ihrem Nähzeug. Dieses Fest,
von dem die Rede gewesen war, würde sicher noch mehr Flicken, Bügeln und
Arbeiten bedeuten, aber eigentlich hatte Sherry gar nichts gegen die zusätzliche
Beschäftigung. Gouvernante für drei Kinder zu sein, hielt sie den ganzen Tag so
auf Trab, daß sie keine Zeit fand, an Stephen und die magischen Tage, in denen
sie zu seinem Leben gehört hatte, zu denken. Nachts, wenn das Haus still war
und sie bei Kerzenlicht dasaß und nähte, konnte sie ihrer Erinnerung und ihren
Träumen nachhängen, obwohl sie manchmal geradezu Angst hatte, daß ihre hoffnungslose
Liebe zu ihm sie irgendwann verrückt machen könnte. Sie beugte den Kopf tiefer
über ihre Näharbeit, erfand ganze Szenen mit ihm und besserte andere, die
wirklich passiert waren, aus.
Manchmal schrieb sie in Gedanken das
schreckliche Ende ihrer Verlobung neu. Die meisten dieser ausgedachten Szenen
begannen gleich – Charise Lancaster stürmte in ihr Schlafzimmer, aber mitten in
ihrem anklagenden Wortschwall über Sherrys Motive und Intrigen betrat Stephen
das Zimmer. Von da an hatte Sherry mehrere Lieblinsvarianten für ein mögliches
Ende:
… Stephen hörte Charises belastenden
Lügen zu, warf Charise aus dem Haus und wandte sich dann Sherry zu. Mitleidig
lauschte er ihrer Version der Geschichte, und sie heirateten wie geplant noch
am selben Tag.
… Stephen weigerte sich, Charise
überhaupt anzuhören, warf sie aus dem Haus, dann lauschte er mitleidig Sherrys
Version der Geschichte, und sie heirateten wie geplant noch am selben Tag.
… sie waren schon verheiratet, als
Charise auftauchte, deshalb mußte er Sherrys Version der Geschichte lauschen
und ihr glauben.
Keine dieser Varianten verdrängte
Nicholas DuVilles schmerzliche Enthüllung, daß Stephen sich aus Schuldgefühl
und Verantwortungsbewußtsein verpflichtet gesehen hatte, sie zu heiraten, aber
Sherry umging diese schreckliche Tatsache durch eine einfache Lösung – Stephen
liebte sie auch. Auch für diesen Schluß hatte sie zahlreiche Varianten:
… er hatte sie immer schon geliebt,
aber es erst gemerkt, als sie fort war, deshalb suchte er nach ihr, bis er sie
fand. Und sie heirateten.
… sie waren schon verheiratet, und
er lernte es, sie trotz allem zu lieben.
Sie zog den ersten Schluß bei weitem
vor, weil er die einzig mögliche Wahrheit darstellte, und der Traum stand ihr
stets so deutlich vor Augen, daß sie sich manchmal dabei ertappte, wie sie aus
dem Fenster blickte und halb erwartete, er käme gleich zur Tür hinein.
Zusätzlich zu ihren Phantasien hatte sie das reale Vergnügen – oder die Qual –,
ihn in der Oper zu sehen.
Sie mußte endlich aufhören, dorthin
zu gehen und sich selbst zu foltern, indem sie auf den Augenblick wartete, in
dem er sich schließlich der Frau, die bei ihm saß, zuwenden und ihr sein
vertrautes träges Lächeln schenken würde. Das, so wußte Sherry, wäre das Ende
ihrer Ausflüge in das Parkett von Covent Garden. Das könnte sie niemals
ertragen.
Manchmal stellte sie sich sogar vor,
daß ihr Verschwinden der Grund dafür war, daß er so ernst und verschlossen
aussah, wenn er neben den Frauen saß, die ihn in seine private Loge
begleiteten. Er wirkte so erschöpft und kalt, weil er Sherry vermißte ... weil
es ihm leid tat, sie verloren zu haben ...
Es war noch taghell und zu früh für
ihre süßen Träume, und so schüttelte Sherry energisch den Kopf, um die Gedanken
zu vertreiben. Lächelnd blickte sie auf, als Julianna Skeffington ins Zimmer
schlüpfte.
»Miss Bromleigh, darf ich zu Ihnen
kommen?« fragte die Siebzehnjährige. Ihr hübsches Gesicht war vor Abscheu verzogen,
als sie leise die Tür schloß und zum Bett hinüberging. Vorsichtig, um die
Bettdecke nicht in Unordnung zu bringen, setzte sie sich nieder. Sie sah aus
wie ein niedergeschlagener Engel. In weniger barmherzigen Augenblicken fragte
sich Sherry, wie zwei so schreckliche Menschen wie Sir John und Lady
Skeffington dieses süße,
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