Judith McNaught
und Wut über
das Schicksal, das ihr das antat, stieg in ihr auf.
»Ich will nach Hause!« rief sie
ungestüm in das leere Zimmer. »Es muß doch eine Möglichkeit geben, nach Hause
zu kommen!« Es waren erst fünf Wochen vergangen, seit sie Tante Cornelia
geschrieben und ihr alles erklärt hatte, was seit ihrer Abreise mit der Morning
Star passiert war, und sie hatte ihre Tante gebeten, ihr Geld für die
Heimfahrt zu schicken. Das Geld würde kommen, dessen war sich Sheridan sicher,
aber es würde mindestens acht bis zehn Wochen dauern, bis ihr Brief ihre Tante
erreichte, und sie dann wiederum die Antwort ihrer Tante bekam.
Selbst wenn es keinen Sturm auf dem
Atlantik gab und die Schiffe nicht in jedem Hafen zwischen Richmond und Portsmouth
anlegten, dauerte es also immer noch drei Wochen, bis sie darauf hoffen konnte,
von ihrer Tante zu hören. Drei Wochen, bis das Geld eintraf. Drei Wochen bis
zu dem Fest auf Claymore. Wenn das Glück ihr auch nur einmal lächelte, seit sie
englischen Boden betreten hatte, dann könnte sie vielleicht doch den
kleinlichen Racheplan der Westmorelands vereiteln.
Achtundvierzigstes Kapitel
Da sie so viel Zeit hatte, um sich geistig
auf alle unangenehmen Ereignisse vorzubereiten, die die Westmorelands für sie
auf Claymore wohl geplant hatten, fühlte sich Sheridan beinahe sicher, daß sie
gut gegen ihr Schicksal gewappnet war. Wochenlang hatte sie sich eingeredet,
sie sei völlig unschuldig und deshalb stünden Tugend und Rechtschaffenheit auf
ihrer Seite. Um sich zudem noch vor Liebeskummer zu schützen, hatte sie mit
ihren Tagträumen über Stephen rigoros aufgehört.
Das versetzte sie in die Lage, die
Reise nach Claymore mit, wie sie fand, stoischer Gelassenheit zu ertragen.
Statt ständig darüber nachzudenken, wie lange es dauern würde, bevor sie
Stephen sah – oder ob sie ihn überhaupt sehen würde –, konzentrierte sie sich
auf das fröhliche Geschwätz der Skeffington-Jungen, die mit ihr in der dritten
der gemieteten Kutschen in der Kolonne fuhren. Statt darüber nachzudenken, was
Stephen tun oder sagen würde, wenn er sie sah, sang sie mit den Kindern auf der
zweistündigen Fahrt fröhliche Lie der. Und statt aus dem Fenster der Kutsche
zu sehen, um einen ersten Blick auf das Haus zu erhaschen, widmete Sheridan
beharrlich all ihre Gedanken und ihre ganze Aufmerksamkeit den beiden Jungen,
während sich der Skeffington-Troß durch eine Allee schlängelte und über eine
steinerne Brücke fuhr, die zum Landsitz des Duke of Claymore führte. Sie
erlaubte sich lediglich einen flüchtigen, gleichgültigen Blick auf die Fassade
des riesigen Hauses mit seinen Doppelflügeln, die sich um eine große,
gepflasterte Auffahrt schwangen, und achtete nicht auf die Balkone und Fenster
an der Front.
Abgesehen von ihrem verräterischen
Herzklopfen, das sich beschleunigte, als sie aus der Kutsche stieg, war sie so
gegen jede Gefühlsaufwallung gewappnet, daß es ihr gelang, die Dienstboten, die
in der braun-goldenen Westmoreland-Livree aus dem Haus eilten, um die
Neuankömmlinge zu empfangen, höflich anzulächeln. In ihrem einfachen dunkelblauen
Wollkleid, die Haare zu einem strengen Knoten im Nacken geschlungen, und einem
weißen Kragen, den sie züchtig bis zum Hals zugeknöpft hatte, sah Sheridan beim
Aussteigen aus der Kutsche aus wie eine Gouvernante – und das war sie ja auch.
Sie legte den beiden Jungen die Hände auf die Schultern und ging zu der
niedrigen Treppe, hinter ihr folgten Sir John, Lady Skeffington und Julianna.
Sie trug ihr Kinn zwar hoch, aber
nicht auf angriffslustige Art, und ging ganz aufrecht. Es gab schließlich
nichts, dessen sie sich schämen oder weswegen sie sich verteidigen mußte, auch
nicht ihre achtbare, wenngleich untergeordnete Stellung als Gouvernante. Zum
tausendsten Mal in den letzten drei Wochen rief sie sich fest ins Gedächtnis,
daß sie die Westmorelands oder irgend jemand anderen nie wissentlich getäuscht
hatte. Dagegen hatte der Earl of Langford sie bewußt getäuscht, indem
er vorgab, er sei ihr Verlobter und wolle sie heiraten. Und seine Familie hatte
das Spiel mitgespielt; deswegen lagen Verantwortung, Schuld und Schande bei
ihnen, nicht bei ihr.
Leider erlitt Sheridans
harterkämpfte Haltung einen ersten schweren Schlag, als sie ihre
Schutzbefohlenen in die dreistöckige, durch eine Lichtkuppel erhellte Halle
führte, wo weitere Bedienstete in Livree darauf warteten, die Neuankömmlinge zu
ihren Zimmern zu geleiten, sobald der
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