Judith McNaught
haben möchte.«
»Nein, ich«, jammerte der
Sechsjährige.
Entsetzt über ihre Manieren, die
sich erst unter ihrer eigenen Fürsorge leicht gebessert hatten, warf sie den
beiden anderen Gouvernanten einen entschuldigenden Blick zu. Die beiden
lächelten verständisvoll und mitleidig zurück. »Sie fühlen sich gewiß müde«,
sagte eine der Gouvernanten zu ihr. »Wir sind gestern schon angekommen und
haben bereits eine Nacht hier geschlafen. Möchten Sie sich nicht ein paar
Minuten ausruhen, bevor die Festlichkeiten beginnen, während wir uns solange um
diese Gentlemen kümmern?«
Da es schon ihrer ganzen
Selbstbeherrschung bedurfte, den Zeichenblock nicht wieder aufzuschlagen oder
die Zeichnung des stämmigen dunkelhaarigen kleinen Jungen mit dem
herzzerreißend vertrauten Lächeln noch einmal zu betrachten, nahm Sheridan ihr
Angebot an und flüchtete über den Flur. Sie ließ ihre Tür offenstehen und
setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, während sie sich angestrengt darauf
konzentrierte, nicht über die Tatsache nachzudenken, da!? Stephen in diesem
Haus aufgewachsen war. Die vergangenen drei Wochen voller Angst und harter
Arbeit sowie die Ereignisse der letzten halben Stunde jedoch forderten ihren
Preis, und zum ersten Mal seit Wochen gab sich Sheridan wieder einem Tagtraum
hin: Sie schloß die Augen und stellte sich vor, die Einladung an die
Skeffingtons habe nichts mit ihr zu tun, sie könne unentdeckt drei Tage lang
hier im dritten Stockwerk bleiben, und Stephen Westmoreland käme gar nicht.
Juliannas Erscheinen kurz darauf
nahm ihr nicht nur alle Hoffnung auf diese Möglichkeiten, sondern bestätigte
Sheridan auch, daQ ihr mehr als eine nur zeitweilige Demütigung zugedacht war.
»Ruhen Sie sich aus oder darf ich hereinkommen?« fragte Julianna zögernd und
riß Sheridan aus ihrer Gedankenverlorenheit.
»Ich freue mich über deine
Gesellschaft«, erwiderte Sheridan wahrheitsgemäß, und weil sie die Worte nicht
mehr hinunterschlucken konnte, fügte sie hinzu: »Ist der Earl of Langford
hier?«
»Nein, aber er wird jeden Moment
erwartet, und Mama ist ganz aufgeregt wegen ihres lächerlichen Vorhabens, uns
beide zusammenzubringen. Ich weiß nicht, wie ich dieses Wochenende überstehen
soll.« Ihre Augen glitzerten voller Zorn. »Warum tut sie mir das an, Miss
Bromleigh? Sagen Sie mir doch, warum sie sich nichts so sehr wünscht, als mich
an den reichsten Mann mit dem größten Titel zu verschachern, egal wie alt oder
häßlich er ist oder wie widerwärtig ich ihn finden könnte! Sagen Sie mir doch,
warum sie sich wie eine ... eine Speichelleckerin aufführt, wenn sie von Leuten
umgeben ist, die sie als gesellschaftlich höherstehend empfindet!« Sheridans
Herz flog der Siebzehnjährigen entgegen, die krampfhaft versuchte, ihre Scham
und ihren Zorn zu beherrschen. »Sie hätten sie eben im Wohnzimmer sehen sollen
mit der Duchess of Claymore und ihren Freundinnen. Mama strengte sich so eifrig
und aufdringlich an, ihre Gunst zu erringen, daß es peinlich war, ihr
zuzusehen.«
Sheridan konnte ihr darauf keine
Antwort geben, ohne selbst ihre geheime Abneigung gegen ein solches Verhalten
preiszugeben, das Julianna an ihrer ehrgeizigen Mama so abscheulich fand.
»Manchmal«, erwiderte sie vorsichtig, »wünschen sich Mütter einfach nur ein
besseres Leben für ihre Töchter, als sie es selbst gehabt haben.«
Verächtlich gab Julianna zurück:
»Mama kümmert sich gar nicht um mein Leben! Ich würde ein glückliches Leben
führen, wenn sie mich einfach nur schreiben ließe. Mein Leben wäre glücklich,
wenn sie aufhören würde, mich verheiraten zu wollen, als sei ich eine ...«
»Eine wunderschöne Prinzessin?«
schlug Sheridan vor, und das entsprach zumindest teilweise der Wahrheit. In
Lady Skeffingtons Augen machten Juliannas Gesicht und ihre Gestalt sie zu
einem kostbaren Besitz, der dem Rest der Familie eine gehobenere Stellung in
der Gesellschaft verschaffen konnte, und ihre Tochter war empfindsam genug, es zu
merken.
»Ich wünschte, ich wäre häßlich«,
brach es aus Julianna hervor, und das meinte sie offensichtlich auch so. »Am
liebsten wäre ich so häßlich, daß kein Mann mich ansieht. Wissen Sie, wie mein
Leben verlief, bevor Sie zu uns kamen? Ich habe immerzu gelesen. Das ist das
einzige, was ich je getan habe. Ich durfte niemals irgendwo hingehen, weil Mama
in der ständigen Angst lebte, ich könnte irgendeinen Skandal verursachen und
dadurch meinen Wert auf dem Heiratsmarkt schmälern.
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