Judith McNaught
Ich wünschte, das wäre so
gekommen«, fügte sie wutentbrannt hinzu, »ich wünschte, mein Ruf wäre ruiniert,
dann könnte ich das kleine Erbe antreten, das Großmama mir hinterlassen hat.
Ich würde mir ein kleines Haus in London kaufen und Freunde haben. Ich würde in
die Oper und das Theater gehen und weiter an meinem Roman schreiben. Freiheit«,
sagte sie leise und gedankenverloren, »Freunde. Sie sind meine erste Freundin,
Miss Bromleigh. Sie sind die erste Frau meines Alters, die Mama je in meine
Nähe gelassen hat. Sie billigt das moderne Benehmen der Frauen in meinem Alter
nicht, wissen Sie. Sie hält sie für leichtsinnig, und wenn ich mich mit ihnen
anfreunden würde ... «
Sheridan fühlte sich aufgefordert,
ihr zu zeigen, daß zumindest sie sie verstand. »Dann könnte Ihr Ruf leiden«,
fiel sie ihr ins Wort, »und Sie wären ...«
» ... ruiniert!« rief Julianna aus,
die bei dieser Aussicht geradezu fröhlich wirkte. Ihr Blick hellte sich auf
und zeigte den Humor und Charakter, den Lady Skeffington so mühsam
unterdrücken wollte. Sie beugte sich vor und gestand flüsternd: »Ruiniert!
Nicht mehr zu verheiraten ... Klingt das nicht göttlich?«
Unter Juliannas besonderen Umständen
klang es wie eine Gnade, aber Sheridan wußte, daß Julianna keine Vorstellung
von den wirklichen Folgen eines solchen Ereignisses hatte. »Nein, das tut es
nicht«, erwiderte sie entschieden, lächelte aber dabei.
»Miss Bromleigh, glauben Sie an die
Liebe? Ich meine, Liebe zwischen einem Mann und einer Frau, so wie man es in
den Romanen lesen kann. Ich glaube nicht daran.«
»Ich ... « Sheridan zögerte. Sie
dachte an die Freude, die sie empfunden hatte, wenn Stephen das Zimmer betrat,
an das Entzücken, wenn sie mit ihm redete oder lachte. Und sie erinnerte sich
vor allem an das seltsame Gefühl von Richtigkeit, das sie in dem Glauben
empfunden hatte, er küsse sie mit großem Vergnügen. Eine Zeitlang hatte sie das
Gefühl gehabt, sie spiele ihre Rolle in der natürlichen Ordnung der Dinge. Sie
hatte sich ... vollständig gefühlt, weil sie ihm gefiel. Oder weil sie
dummerweise gedacht hatte, sie gefiele ihm. Als sie merkte, daß Julianna sie
auf einmal sehr aufmerksam musterte, sagte sie: »Ich habe früher an Liebe geglaubt.«
»Und?«
»Und sie kann sehr schmerzlich sein,
wenn sie einseitig ist«, gestand sie. Sie staunte über sich selbst, daß sie
ihre Maske so weit hatte fallen lassen, und das nur, weil sie sich erlaubt
hatte, an einen Kuß zu denken.
»Ich verstehe«, erwiderte Julianna.
Ihre veilchenblauen Augen waren zu klug, zu wissend für ihr Alter. Sheridan
hielt sie für eine begabte Schriftstellerin und für eine exzellente
Beobachterin.
»Das glaube ich nicht«, log Sheridan
mit heiterem Lächeln.
Julianna bewies ihr mit unverblümter
Einfachheit das Gegenteil. »Als Sie zu uns kamen, da spürte ich ... eine tiefe
Verletzung bei Ihnen. Und Mut und Entschlossenheit. Ich werde Sie nicht fragen,
ob es unerwiderte Liebe war, obwohl ich mir dessen beinahe sicher bin, aber
darf ich Sie etwas anderes fragen?«
Es lag Sheridan auf der Zunge, sie
streng darauf hinzuweisen, daß man sich nicht in das Leben anderer Leute einmischte,
aber Julianna war so einsam, so reizend und so mitfühlend, daß sie nicht das
Herz dazu hatte. »Nur wenn mir Ihre Frage nicht unangenehm ist«, antwortete Sheridan
statt dessen.
»Wie schaffen Sie es, so gelassen zu
wirken?«
Sheridan fühlte sich alles andere
als gelassen, und sie versuchte, scherzend zu antworten, aber ihr Lachen klang
gekünstelt. »Ich bin anscheinend ein Ausbund an Tugend. Mutig – entschlossen.
Nein, wir wollen uns über wichtigere Dinge unterhalten. Wie sehen die Pläne für
das Wochenende aus, wissen Sie das?«
Julianna reagierte mit einem
bewundernden Lächeln, als Sheridan so geschickt das Thema von sich weglenkte,
gehorchte ihr jedoch, indem sie die Frage beantwortete. »Wir werden uns das
ganze Wochenende über draußen aufhalten, auch während der Mahlzeiten, was mir
ziemlich seltsam vorkommt. Jedenfalls sitzen die Kinder und ihre Gouvernanten
an Tischen neben uns – ich weiß das zum Teil deshalb, weil ich einen
Spaziergang über den Rasen gemacht habe, bevor ich hier heraufkam, und gesehen
habe, wie alles aufgebaut wurde.« Sie bückte sich, um einen Kieselstein aus
ihrem Schuh zu holen, und deshalb entging ihr, wie sich Sheridans Gesicht vor
Entsetzen und Feindseligkeit verschloß. »Oh, und Sie sollen mit den Jungen
Gitarre spielen
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