Judith McNaught
jetzt der richtige Zeitpunkt war.
Genau jetzt. Es gab keinen Weg zurück. »In einer halben Stunde gehen alle zum
Teich, wo die Kinder ein kleines Fest feiern. Noel wird auch da sein, zusammen
mit ein paar anderen Kindern.«
Einundfünfzigstes Kapitel
Schwäne glitten anmutig über das
spiegelglatte Wasser. Sheridan und die beiden anderen Gouvernanten standen in
der Nähe eines majestätischen weißen Aussichtsturms und sahen einigen Kindern
zu, die fröhlich am Ufer eines kleinen Sees auf dem vorderen Rasen mit eben
erst flügge gewordenen Enten spielten. Ihre munteren Stimmen erklangen hell,
als sie versuchten, die hochmütigen Schwäne näher ans Ufer zu locken, und sie
vermischten sich mit den dunkleren, zurückhaltenderen Stimmen der Fieldings,
Townsendes, Skeffingtons und Westmorelandes.
Sheridan achtete sorgfältig auf die
Kinder, aber keines der Geräusche übertönte ihren Herzschlag, als sie Stephen
endlich mit zwei Frauen aus dem Haus kommen sah. Whitney hatte ihr schon eine
Warnung wegen der beiden Frauen zugeflüstert, bevor sie sich ihren Gästen
anschloß, aber Sheridan hatte kaum darauf geachtet. In Gedanken hörte sie nur,
was Whitney vorher gesagt hatte: »Stephen behielt den Priester bis spät am
Abend da. Er wollte nicht glauben, daß Sie weggelaufen waren.«
Zärtlichkeit und Mitleid
überwältigten sie, wenn sie daran dachte, und sie gaben ihr den Mut und die
Entschlossenheit, ihm gegenüberzutreten und ihm die »Einladung« zu bieten, die
nötig war, um ihn zu ihr zurückzubringen.
Stephen lauschte auf etwas, das
Monica ihm erzählte, aber sein Lächeln wirkte abwesend und sein Blick galt den
Kindern.
Je näher er kam, desto heftiger
schlug Sheridans Herz, bis es schließlich in ihren Ohren zu dröhnen schien.
Noel kam zusammen mit Charity zu ihr gelaufen und blieb schüchtern vor ihr
stehen. »Blume, für dich«, sagte er und hielt ihr eine winzige Wildblume
entgegen, die er auf Charitys Aufforderung hin gepflückt hatte.
Charitys Grund dafür klärte sich,
als sie sagte: »Langford wird sich nach Noel umsehen, und wenn er bei Ihnen
ist, dann werden wir alle schneller von unserer Anspannung erlöst, als wenn
wir warten müßten, bis er die Gouvernanten bemerkt.«
Sherry fand diese Idee nicht so
glänzend, aber sie beugte sich nieder, um die Blume anzunehmen. Sie lächelten
dem stämmigen Dreijährigen, der sie sowohl an seinen Vater als auch an Stephen
erinnerte, freundlich an. »Vielen Dank, mein Herr«, erwiderte sie, wobei sie
aus den Augenwinkeln Stephen beobachtete, der dem Aussichtsturm näher kam.
Hinter ihr, unter einer großen Eiche, verfolgten auch die Erwachsenen
aufmerksam die Szene, und ihre Gespräche und ihr Gelächter verstummten.
Noel blickte auf die Sonnenstrahlen,
die ihr Haar zum Leuchten brachten. Er wollte danach greifen, hielt aber inne,
um Charity fragend anzusehen. »Heiß?«
»Nein«, antwortete Sheridan, die
jede Linie in seinem Gesicht liebte, »es ist nicht heiß.«
Er lächelte und griff danach, um es
zu berühren, aber in diesem Moment erscholl Stephen Stimme und lenkte ihn sofort
ab.
»Noel!«
Noel strahlte auf, und bevor Charity
ihn aufhalten konnte, lief er schon zu seinem Onkel, der ihn in seinen Armen
auffing und hochhob. »Du bist mindestens einen halben Meter gewachsen«,
erklärte ihm Stephen, nahm ihn auf den linken Arm und blickte auf die Gruppe
von Erwachsenen unter dem Baum. »Hast du mich vermißt?«
»Ja!« antwortete
Noel und nickte nachdrücklich mit dem Kopf, aber als sie an Sheridan
vorbeigingen, sah Noel, daß Sherry ihn mit zögerndem Lächeln beobachtete.
Kurzentschlossen wand er sich aus dem Arm.
»Was, so schnell willst du mich
schon wieder verlassen?« fragte Stephen überrascht und ein bißchen verletzt.
»Offensichtlich«, scherzte er mit einem Blick auf die Townsendes, Fieldings,
auf Georgette und Monica, während er den zappelnden kleinen Jungen auf den
Boden stellte. »Ich werde ihm demnächst verlockendere Geschenke mitbringen müssen.
Wohin gehst du, junger Mann?«
Noel schenkte ihm einen liebevollen
Blick, wies jedoch mit seinem rundlichen Finger auf eine Frau, die ein paar
Schritte entfernt stand und ein unauffälliges dunkelblaues Kleid trug, und
erklärte: »Erst Küßchen!«
Ohne zu merken, daß sechs Augenpaare
ihn aufmerksam musterten, richtete Stephen sich auf, blickte in die Richtung, in
die das Kind gezeigt hatte ... und erstarrte, als sein Blick auf Sheridan fiel,
die sich niedergebeugt hatte, um ihren
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