Judith McNaught
während
sie angeblich unter Amnesie litt, noch einmal rekapituliert, und er konnte sich
nur an einen Ausrutscher erinnern – als sie Einwände gegen eine bezahlte
Gesellschafterin geäußert hatte. »Ich brauche keine Gesellschafterin«, war
es ihr herausgerutscht, »ich bin eine ...«
Sie war eine erstaunlich gute
Schauspielerin, so wie sie diesen ganzen Betrug aufgezogen hatte, dachte
Stephen und von neuem überkam ihn Abscheu vor seiner eigenen Dummheit.
Eine hervorragende Schauspielerin,
überlegte er grimmig, während er daran dachte, wie sanft ihre Augen gewesen waren
in dem kurzen Moment, da sie sich heute morgen angeschaut hatten. Ihr ganzes
Herz hatte in diesem Blick gelegen, und sie hatte ihn direkt und ohne zu
blinzeln angesehen. Nur, daß sie kein Herz besaß. Und offenbar auch kein
Gewissen.
Sie wollte es noch einmal bei ihm
versuchen. Das hatte Stephen sofort gemerkt, als er diesen versonnenen Ausdruck
auf ihrem lieblichen, betrügerischen Gesicht heute morgen gesehen hatte.
Er nahm an, daß DuVille sie in den
letzten Wochen zu seinem eigenen Vergnügen festgehalten hatte, aber offensichtlich
war er ihrer binnen erstaunlich kurzer Zeit müde geworden und hatte sie
daraufhin fortgeschickt.
Jetzt arbeitete sie als Gouvernante
und sehnte sich offenbar nach einem besseren Leben. Nach diesem süßen, flehenden
Blick, den sie ihm zugeworfen hatte, zu urteilen, hoffte sie offensichtlich,
daß er für ihre Reize, die auf ihn jetzt nicht mehr wirkten, noch genauso
empfänglich sein würde wie vorher.
Nachdenklich richtete er seinen
Blick auf die Männer, aber Victoria Fieldings Aufschrei unterbrach seinen
Gedankengang.
»Da kommen sie«, rief sie aus.
Stephen verbannte energisch Sheridan
Bromleigh aus seinem Gehirn und blickte an die Stelle am Fuß der bewaldeten
Hügel, wo sie hinzeigte.
Zwei Reiter kamen in voller
Geschwindigkeit angaloppiert. Beide waren tief über den Hals ihres Pferdes
gebeugt und sprangen in anmutigem Gleichklang über die Hecken. Stephen erkannte
Whitney auf den ersten Blick; sie war eine der besten Reiterinnen, die er je
gesehen hatte – unter Männern wie Frauen. Ihr Herausforderer war ein schmaler
Junge, gekleidet in Hemd, Breeches und Stiefel, und er konnte sogar noch besser
reiten als Whitney. In halsbrecherischem Tempo nahm er jede Hürde mit einer
mühelosen, forschen Sorglosigkeit, die Stephen noch nie gesehen hatte. Er
hatte sein Gesicht nahe an die Mähne des Pferdes gedrückt, und er sprang mit so
einer Freude und Leichtigkeit über die Hindernisse, als sei er eins mit dem
Pferd – selbstbewußt, voller Vertrauen und Übermut.
»Ich wußte gar nicht, daß das Tier
so springen kann!« rief Clayton mit bewunderndem Lachen aus. Ohne sich um Stephen
mögliche Zweifel an seiner brüderlichen Integrität zu kümmern, fügte er hinzu:
»Stephen, du hast Commander doch bei der Jagd geritten. Er läuft in der Ebene
schnell, aber ist er jemals so über Hürden gegangen?«
Stephen blinzelte in die
Spätnachmittagssonne und beobachtete, wie die beiden Reiter in vollkommenem
Gleichklang über die Hürden setzten, weitergaloppierten und wieder zusammen
über die nächste Hecke sprangen. Da er im Augenblick keine Antworten über
Sheridan von seinem Bruder verlangen konnte, berichtete er nüchtern, was er
von dem Jungen sehen konnte. »Anscheinend hält er Commander zurück, damit er
Khan nicht überholt ...«
»Der normalerweise besser als
Commander über Hürden geht«, ergänzte Clayton an seine Freunde gewandt.
Die Reiter nahmen den letzten Zaun
und strebten dann in vollem Galopp auf das offene Tor des Gatters zu, wo sich
die Zuschauer versammelt hatten. Da Clayton im letzten Jahr neue Trainer
ausprobiert hatte, nahm Stephen wie selbstverständlich an, sein Bruder habe
beschlossen, dem zierlich gebauten Jungen eine Chance für diese Position zu
geben. Als die Pferde herandonnerten, wollte er gerade seinem Bruder
vorschlagen, den Jungen fest einzustellen, aber dann geschahen zwei Dinge auf
einmal, die ihn mitten im Satz abbrechen ließen: ein Stallknecht huschte auf
das Feld und warf einen Getreidesack zu Boden – und als der Reiter von
Commander sich nach rechts beugte, löste sich sein Haar.
Das schwere, feuerrote Haar flatterte
wie eine Fahne um Sheridans Kopf, und während sie sich immer weiter nach rechts
beugte, begann sie zu fallen. Monica schrie angstvoll auf, und Stephen trat
unbewußt einen Schritt vor, um auf sie zuzulaufen ... da nahm Sheridan den
Getreidesack
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