Judith McNaught
warum sie weggelaufen ist ... « Sie
hielt inne, als Miss Charity aufstand und schweigend das Zimmer verließ. »Ich
glaube nicht, daß Miss Charity die ganzen Anstrengungen zu ertragen vermag.«
»Sie sagte mir, sie fände das alles
höchst aufregend«, erwiderte die Herzoginwitwe mit einem irritierten Seufzer.
Sheridan stand an ihrem Fenster und sah zu,
wie Stephen über etwas, das Monica zu ihm sagte, lachte. Aus ihrer Perspektive
schien die Situation sogar noch auswegloser. Es würde ihr nicht gelingen, ihn
allein zu sprechen, weil er das sicher nicht zuließe, aber sie konnte auch
nicht vor allen anderen mit ihm reden. Das hatte sie veršucht, als sie ihm
ihre »Gunst« erwiesen hatte, und es war ein Desaster gewesen.
Dreiundfünfzigstes Kapitel
Stephen Plan, ihre Anwesenheit einfach zu
ignorieren, fiel ihm immer schwerer, als der Abend in die Nacht überging, und
er sie am Rand des mit Fackeln erleuchteten Geländes, auf dem die Tische für
das Abendessen aufgestellt worden waren, sah. In den ersten Stunden hatte ihn
noch der Schock über ihre Anwesenheit gestärkt, aber jetzt wirkte er nicht
mehr. Er stand etwas abseits von den anderen Gästen an eine Eiche gelehnt und
beobachtete sie heimlich, während ihn Erinnerungen, die er anscheinend nicht
unterdrücken konnte, überkamen.
Er sah sie vor den Türen zu seinem
Arbeitszimmer stehen und sich mit dem Unterbutler unterhalten. »Guten
Morgen, Hodgkin. Sie sehen heute ganz besonders gut aus. Ist das ein neuer
Anzug?«
»Ja, Miss. Danke, Miss.«
»Ich habe auch ein neues Kleid«, hatte sie ihm anvertraut und eine
Pirouette vor dem Unterbutler gedreht, damit er es begutachten konnte. »Ist
es nicht reizend?«
Ein paar Minuten später, als Stephen
noch Zeit gewinnen wollte, bevor er ihr vorschlug, sich nach einem anderen Ehemann
umzusehen, hatte er sie gefragt, warum sie die Magazine, die er eigens für sie
hatte kommen lassen, nicht lesen wollte.
»Haben Sie eigentlich schon mal
hineingesehen?« hatte
sie erwidert, und er mußte schon grinsen, noch bevor sie zu einer Beschreibung
angesetzt hatte. »Eins hieß Das Monatsmuseum für Damen oder Erbauliche
Sammlung der Erheiterung und des Wissens: eine Zusammenstellung dessen, was
der Phantasie gefällt, den Geist schult oder den Charakter der britischen Dame
erhebt«, hatte sie erklärt. »In einem Artikel ging es darum, wie man Rouge
auf die Wangen aufträgt! Es war ungeheuer aufschlußreich«, hatte sie mit
unwiderstehlichem Lächeln gelogen. »Was meinen Sie, fällt das unter die
Überschrift 'den Geist schulen' oder 'den Charakter erheben'?«
Aber vor allem erinnerte er sich
daran, wie sie in seinen Armen dahingeschmolzen war und an ihre wunderschönen
vollen Lippen. Sie war die geborene Verführerin, dachte Stephen. Was ihr an
Erfahrung fehlte, machte sie durch bereitwillige Leidenschaft mehr als wett.
Vor ein paar Minuten war sie ins
Haus gegangen, um die Skeffington-Jungen zu holen, die offenbar zur
Unterhaltung der Gäste singen sollten, und als sie wieder auftauchte, sah er,
daß sie ein Instrument bei sich trug. Er mußte seinen Blick gewaltsam von ihr
losreißen und sich zwingen, auf das Bran dyglas in seiner Hand zu schauen,
damit er ihrem Blick nicht begegnete und sie wieder begehrte.
Sie wieder begehrte? dachte er
bitter. Er hatte sie begehrt von dem Augenblick an, als sie in seinem Bett in
London die Augen aufgeschlagen hatte, und jetzt, wo er sie gerade erst
wiedergesehen hatte, begehrte er sie nicht minder. Trotz ihres schlichten
Kleides und obwohl sie die Haare aus der Stirn gekämmt und im Nacken zu einem
strengen Knoten geschlungen hatte, fühlte sich sein Körper steif an vor Begehren.
Er blickte zu Monica und Georgette
hinüber, die sich mit seiner Mutter unterhielten. Beide waren wunderschöne
Frauen – wunderschön gekleidet, die eine in gelb und die andere in rosa,
wunderschön frisiert und mit wundervollen Manieren. Keine von ihnen wäre je auf
die Idee gekommen, sich wie ein Pferdeknecht anzuziehen und auf diesem verdammten
Gaul herumzugaloppieren.
Allerdings hätte auch keine von
beiden so strahlend ausgesehen, wenn sie es versucht hätten.
Keine von beiden hätte ihm je einen
Getreidesack mit verführerischem Lächeln dargeboten und so getan, als gewährte
sie ihm damit eine »Gunst«.
Allerdings wäre auch keine von
beiden so unverfroren gewesen, ihn dabei direkt anzusehen und ihn mit den
Augen aufzufordern – nein geradezu herauszufordern –, sie in die Arme
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