Judith McNaught
zu
nehmen.
Früher hatte er Sheridan Bromleigh
als Zauberin betrachtet, und als sie ihrem Instrument die ersten Klänge
entlockte, mußte er wieder daran denken. Sie zog jeden in ihren Bann, vor allem
ihn. Die Gespräche unter den Gästen hatten vollständig aufgehört, und selbst
die Bediensteten blieben stehen, um sie anzusehen und ihr staunend zu
lauschen. Stephen blickte finster auf den Brandy in seinem Glas und versuchte,
nicht hinzusehen, aber er konnte geradezu spüren, daß sie ihn anblickte. Sie
hatte ihn heute abend oft genug angesehen, und deshalb tat sie es
wahrscheinlich auch jetzt. Die Blicke waren immer sanft, immer einladend, immer
flehend. Sie reizten Monica und Georgette, die sich verwirrt und verächtlich
darüber äußerten, wie dreist sie sich anbot, aber Stephen hatte die beiden auch
noch nie am ganzen Körper gestreichelt. Sheridan alleine wußte genau, welches
Begehren sie in ihm weckte ...
und welche
Erinnerungen.
Wütend über seine Schwäche löste
sich Stephen vom Baum und stellte sein Glas auf dem nächstbesten Tisch ab. Er wünschte
den anderen Gästen eine gute Nacht und ging zu seinem Zimmer, um sich so zu
betrinken, daß er nicht mehr fähig war, zu ihr zu gehen.
Vierundfünfzigstes Kapitel
Sheridans Kopf dröhnte von der Anspannung des
Tages, als sie die Tür des kleinen Schlafzimmers gegenüber dem Spielzimmer
öffnete. Vorsichtig tastete sie sich in dem dunklen, unbekannten Raum
vorwärts, bis sie zum Schreibtisch gelangte und die Zündhölzer fand, mit denen
sie die Kerzen des Tischleuchters anzünden konnte. Sie wollte gerade die
vierte Kerze anstecken, als eine tiefe Männerstimme sagte: »Ich glaube nicht,
daß wir viel Licht brauchen werden.«
Mit einem erstickten Schrei fuhr sie
erschrocken herum. Die Hand, die sie an den Mund gepreßt hatte, sank herunter
und ihr Herz begann vor Freude heftig zu schlagen. Auf dem einzigen Stuhl im
Zimmer saß Stephen Westmoreland, ein Bild entspannter Eleganz mit seinem weißen
Hemd, das am Hals offenstand, die Beine lässig übereinandergeschlagen. Selbst
sein Gesichtsausdruck wirkte ungezwungen. Zu ungezwungen. Irgendwo in ihrem
Gedankensturm merkte sie, daß er diese bedeutsame Begegnung mit einer kühlen
Nonchalance behandelte, die unangemessen schien. Aber sie war so glücklich
darüber, ihn zu sehen, so begeistert, ihn in ihrer Nähe zu haben, und sie
liebte ihn so sehr, daß nichts eine Rolle spielte. Nichts.
»Wenn ich mich recht erinnere«,
sagte er in dem gedehnten, sinnlichen Tonfall, der sie immer dahinschmelzen
lieg, »planten wir eine Hochzeit, als ich das letzte Mal auf Sie gewartet
habe.«
»Ich weiß, und ich kann alles
erklären«, antwortete sie. »Ich ...«
»Ich bin nicht hier heraufgekommen,
um mich zu unterhalten«, unterbrach er sie. »Unten hatte ich den Eindruck, Sie
böten mir sehr viel mehr an als eine Unterhaltung. Oder irre ich mich?«
»Nein«, flüsterte sie.
Stephen blickte sie in ungerührtem
Schweigen an und erkannte mit dem Auge des Kenners, nicht des unglaublichen
Dummkopfes, der er gewesen war, daß sie genausoso verführerisch und exotisch
aussah wie in seiner Erinnerung ...
abgesehen von ihrer
strengen Frisur. Er mochte diesen Anblick nicht, vor allem jetzt nicht, da er
von Lust und Rache getrieben mit dieser intriganten, ehrgeizigen Schlampe, die
im Augenblick eher wie eine keusche Jungfrau aussah, abrechnen wollte. »Nehmen
Sie die Nadeln aus Ihren Haaren«, wies er sie knapp und ungeduldig an.
Verwirrt von diesem Wunsch und
seinem Befehlston, gehorchte Sheridan und zog das Dutzend Haarnadeln, die sie
benötigt hatte, um ihre schweren Haare sicher in einem Knoten zu befestigen,
heraus. Sie drehte sich um, um sie auf den Schreibtisch zu legen, und als sie
sich wieder zu ihm umwandte, war er aufgestanden und knöpfte langsam sein Hemd
auf.
»Was tun Sie da?« keuchte sie.
Was tue ich eigentlich? fragte sich Stephen wütend. Was zum
Teufel tat er hier oben, eingeladen oder nicht, mit der Frau, die ihn ohne ein
weiteres Wort an ihrem Hochzeitstag verlassen hatte? Als Antwort auf ihre Frage
griff er nach seinem Halstuch. »Ich gehe«, erklärte er und ging bereits Richtung
Tür.
»Nein! stieß sie hervor. »Bitte
gehen Sie nicht!«
Stephen drehte sich um in der
Absicht, ihr die vernichtende Antwort zu geben, die sie verdiente, aber da
flog sie schon an seine Brust, eine weiche, verlangende Frau, und betäubte all
seine Sinne mit ihrem vertrauten Duft und dem Gefühl, sie nahe zu
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