Judith McNaught
wurde: In einem einfachen braunen Kleid,
die Haare zu einem ordentlichen Knoten geschlungen und unter einer Haube
verborgen, die sie selbst gehäkelt hatte, wurde Miss Sheridan Bromleigh Mrs.
Adley Raeburn vorgestellt, der Direktorin der Schule, an der Tante Cornelia
unterrichtete. Mrs. Raeburn, die auf Tante Cornelias Einladung zu ihnen nach
Hause gekommen war, starrte den Bruchteil einer Sekunde lang auf Sheridans
Haare und ihr Gesicht – wie es die Leute seit neuestem taten, vor allem die aus
der Stadt. Vor ein paar Jahren noch hätte eine jüngere, weniger gut erzogene
und gelassene Sheridan Bromleigh schuldbewußt auf ihre Stiefel geblickt, den
Hut tief ins Gesicht gezogen oder vielleicht sogar gefragt, warum die Fremde
sie so anstarrte.
Aber jetzt gab es eine neue
Sheridan, eine junge Frau, die sich klargemacht hatte, daß sie eine finanzielle
Belastung darstellte. Heute war sie entschlossen, ihr Geld selbst zu verdienen,
nicht nur wegen ihrer Tante und für die Gegenwart, sondern für sich selbst und
für alle Zeit.
In der Stadt hatte sie Armut und
Hunger gesehen – Dinge, die es in diesem Land angeblich nur selten gab.
Sheridan war nun eine seßhafte Stadtbewohnerin und würde es für den Rest ihres
Lebens wohl auch bleiben. In den letzten beiden Jahren waren die Briefe ihres
Vaters, die sie zuerst noch häufig bekommen hatte, ausgeblieben. Er würde sie
hier nicht einfach vergessen, das wußte sie ganz sicher. An die unerträgliche
Möglichkeit, daß er tot sein könnte, wollte sie besser gar nicht denken. Also
blieb ihr keine andere Wahl, als für sich selbst zu sorgen und sich einzureden,
daß es nur so lange sein müßte, bis ihr Vater und Rafe wieder zurückkämen. Das
rief sie sich ins Gedächtnis, als Mrs. Raeburn förmlich zu ihr sagte: »Ich
habe von Ihrer Tante sehr viel Gutes über Sie gehört, Miss Bromleigh.«
Und Sheridan Bromleigh, die früher
einmal die Hände in den Hosenbund gesteckt und mit freimütiger Schüchternheit
erwidert hätte, sie könnte sich kaum vorstellen, was damit gemeint sein sollte,
streckte statt dessen ihre Hand aus und erwiderte ebenso formvollendet: »Ich
von Ihnen ebenfalls, Mrs. Raeburn.«
Und nun befand sich Sherry auf der Morning
Star und machte sich plötzlich bewußt, daß sie vielleicht nie wieder jemanden
aus ihrem alten Leben sehen würde; weder Tante Cornelia, noch die kleinen
Mädchen aus der Schule oder die anderen Lehrerinnen, mit denen sie sich
angefreundet hatte und die sich jeden Samstagnachmittag zu Tee und Gesprächen
bei ihr zuhause eingefunden hatten. Nie wieder würde sie in ihre lächelnden
Gesichter blicken. Oder in Rafes Gesicht ... oder in das ihres Vaters.
Ihr Mund war trocken und in ihren
Augen brannten Tränen, als sie daran dachte, daß sie ihren Vater vielleicht
nie mehr wiedersehen würde. Wenn er endlich zu Tante Cornelia käme und sich
darauf freuen würde, sie wiederzusehen und ihr endlich den Grund für sein
langes Schweigen zu erklären, würde sie nicht da sein ... Vielleicht würde sie
nie erfahren, wie es ihm ergangen war.
Sie schloß die Augen und konnte
beinahe sehen, wie Rafe, Schlafender Hund und ihr Vater in Tante Cornelias Wohnzimmer
standen und vergeblich auf sie warteten. Und sie ganz allein war schuld daran,
weil sie darauf bestanden hatte, Charise auf dieser Reise zu begleiten. Und
dabei hatte noch nicht einmal Geld dafür den Ausschlag gegeben. Nein, wirklich
nicht. Sie hatte an England denken müssen, seit sie mit diesen Liebesromanen
angefangen hatte. Sie hatten ihre Sehnsucht nach Abenteuern geweckt und den
verträumten Leichtsinn in ihr entzündet, den sie trotz ihrer eigenen Bemühungen
sowie der ihrer Tante nicht vollständig hatte bekämpfen können.
Nun ja, jetzt hatte sie ihr
Abenteuer! Statt in einem Klassenzimmer zu sitzen, umgeben von kleinen
Mädchen, die ihr mit gespannter Aufmerksamkeit lauschten, während sie ihnen
eine Geschichte vorlas oder ihnen erklärte, wie man sich anmutig bewegte,
befand sie sich nun in einem fremden, unfreundlichen Land – in der Falle,
wehrlos und vollkommen ihres Witzes und Muts beraubt, deren sie sich selbst
immer gerühmt hatte. Sie bereitete sich darauf vor, einen Adligen kennenzulernen,
den das britische Gesetz laut Meg nicht dazu zwang, seinen gerechten Zorn zu
zügeln oder seine Rachegelüste aufzuschieben, wenn sie ihm mitteilte, was passiert
war – was sie in ihrem Stolz hatte geschehen lassen.
Furcht, eine Schwäche, die Sheridan
mehr als alles andere
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