Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
anderen Arzt zu finden. Denn ein Wortbruch war die ganze Sache Lauber, er sagte wörtlich zu meiner Mutter (und auch zu mir), daß er versuchen wolle mich zu heilen. Dann vor Gericht sagte er aber, daß «das kaum möglich sei, auch in Jahrzehnten». Was soll ich dazu sagen?
***
[Folgender Brief, nicht an mich, sondern an Jürgens Eltern, kam zu mir über Jürgens zweiten Rechtsanwalt Rolf Bossi. Sein Begleitbrief trägt das Datum 6. September 1971, aber Jürgen hatte den Brief fast drei Jahre früher geschrieben.]
Duisburg, 26. 12. 1968
Liebe Eltern!
Ich halte es für meine (traurige) Pflicht, Euch mitzuteilen, daß in den letzten Wochen, durch die erheblich innere Aufregung und auch Ärger in umseitig erklärtem Zusammenhang meine «Asthma»-Schwierigkeiten erheblich schlimmer geworden sind. Darum muß ich z. Zt. wieder unter Aufsicht Beruhigungsmittel nehmen, sowie in den letzten Wochen außer der Reihe meine Brustorgane röntgen lassen.
[Auf der nächsten Seite, anscheinend an Herrn Bossi gerichtet, schreibt Jürgen von «einer Geschichte im November 1954», wo ihn ein älterer Vetter zu seinem ersten homosexuellen Kontakt verführte. Nach der Sperrung unseres Briefwechsels durch dieWuppertaler Kammer schaltete sich Heinz Möller mit einem Antrag ein, der betonte, daß die Verteidigung auf diesen Briefwechsel Wert lege. Die höhere Instanz hat seinen Antrag genehmigt. Prof. Hans Giese leitete damals das Institut für Sexualforschung in Hamburg; ursprünglich sollte er im Wuppertaler Prozeß gutachten, lehnte aber ab, als die Kammer sich nicht in der Lage sah, seine Untersuchungsbedingungen zu genehmigen.]
A propos berücksichtigt: Das sind keine Hirngespenste [sic], wenn ich solches Wort gebrauche. Denn als der Jugendstaatsanwalt Blazy meine Zeugenaussage gegen Pater Pütlitz aufnahm, sagte er wörtlich zu mir: «Schade, daß Du es beim Prozeß nicht beweisen konntest, daß der (Pütlitz) das gemacht hat, denn dann wärest Du wahrscheinlich etwas besser weggekommen, denn die Richter berücksichtigen so etwas eigentlich immer, weil derjenige Täter zumindest nicht allein aus freien Willen auf die schiefe Bahn geraten ist!»
Daß diese Worte ein Schock für mich waren, ist wohl klar, weil der Staatsanwalt ja genau wußte, daß eine fast genau solche Sache praktisch vollkommen übergangen wurde beim Prozeß.
Wie Sie wissen, beantworte ich dem Journalisten Paul Moor, der viel für mich arbeitet, psychoanalytische Fragen, welche er danach einigen der Gutachter zuleitet. Als ich die Geschichte vom November 1954 ausführlich berichtete, sperrten die Richter den Briefwechsel sofort, u. a. mit der Begründung, weil ich «ausführlich über mein erstes sexuelles abartiges Erlebnis» berichtete.
Da tauchte bei mir natürlich zwangsläufig ein gewisser Verdacht auf: wenn P. Moor von dieser Sache eigentlich nichts erfahren sollte, wer denn außerdem ebenfalls nicht? Da ich nicht weiß, ob der BGH [Bundesgerichtshof] tatsächlich immer alle Akten restlos bekommt, teilte ich demselben brieflich die ganze Sache vom November 1954 mit. Ich schrieb noch erklärend dazu, daß ich, weil ich gehemmt war durch die viele Presse und Zuschauer im Gerichtssaal, nicht alles dazu habe erklären können, aber meine Eltern können alles bestätigen! Nämlich: Daß ichnicht, wie das Gericht grundloserweise annahm, von der ganzen Sache völlig ungerührt geblieben wäre, sondern daß ich immerhin derartig geschockt war, daß ich solche Angst vor dem Kerl [Jürgens Vetter] hatte, daß ich, als die Verabschiedung an der Haustür kam, in panischer Angst vor ihm weglief, in den dunklen Garten des Hauses, in einen Stacheldrahtzaun hinein, wo ich mir die ganze linke Augenbraue quer durchriß; die Narbe dient heute als Kennzeichen für die Polizei …
… Als ich in der Pubertät einen Bart bekam, habe ich mich furchtbar geärgert. Vom ersten Augenblick an habe ich diesen beschissenen Tribut der Männlichkeit abgelehnt. Man hört, wie das bei Anderen sein soll, wenn sie sich zum ersten Mal rasieren – – ach Gott, wie stolz! Was meinen Sie, was ich eine Wut im Bauch hatte! Das ist doch ganz großer Mist.
Ich lehne den Bart nicht als Tribut der Männlichkeit ab, sondern als Tribut des Erwachsenseins.
… Auf Prof. Giese kann ich im Punkte Triebrichtung natürlich leider keine Rücksicht nehmen. Er erklärte mir damals, bei keinem Menschen ändere sich die Zuneigungsrichtung vollkommen.
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