Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
daher auflösen: Irgendwann in der Kindheit hat er eine Hirnschädigung erlitten und das ‹erklärt› seine Taten. Aber so einfach ist es nicht. Es bedurfte wohl des Zusammenwirkens aller Stationen, die er durchlief …, um Jürgen Bartsch zu dem zu machen, was er war. Das Mosaik schloß sich nur langsam zusammen. Eines Tages war dann die innere Bereitschaft vorhanden: der erste Mordimpuls schoß ein, eher zur eigenen Überraschung.Aber nun fing die Phantasie an zu arbeiten und drängte zur Wiederholung, drängte zu Mord.»
Nach Schluß des Prozesses fragte ich den Gerichtsvorsitzenden Dr. Fischer, ob ich Jürgen besuchen dürfe; er sagte, dem stünde nun nichts mehr im Wege. Als ich zu Jürgen geführt wurde und mit ausgestreckten Armen auf ihn zuging, warf er sich mir entgegen, klammerte er sich schweigend an mir fest, als wenn er nicht mehr loslassen wollte. Zum ersten, aber nicht zum letzten Mal habe ich auch ihn umarmt – so lange, wie er selber es wünschte.
Kurz vor dem Revisionsverfahren waren zum erstenmal Auszüge aus Jürgens Briefen an mich im
ZEITmagazin
erschienen. Darüber schrieb Gerhard Mauz im
Spiegel
: «Diese Korrespondenz … ist ein Dokument der Humanität, da sie Jürgen Bartsch den Beistand eines Zuhörers schenkte. Daß diese Korrespondenz auch ein wissenschaftliches Dokument ist, der Quellennachweis einer Entwicklung, die vier Kindern das Leben kostete und einen fünften Menschen, Jürgen Bartsch, zerstörte, scheint der neue Prozeß immer deutlicher zu bestätigen. Die endgültige Bestätigung würde unendlich wertvolle Lehren für die Verhütung von Verbrechen bringen.»
Man fragte sich damals, welchen Einfluß dieser wichtige Prozeß auf die Öffentlichkeit haben würde. Was würde sie aus ihm lernen?
Schon 1934 hatte Max Horkheimer geschrieben: «Wenn man das Entsetzen der heutigen Welt über Lustmorde, besonders über Angriffe auf Kinder erfährt, könnte man glauben, daß ihr das Menschenleben und die gesunde Entwicklung des Individuums heilig wäre. Doch abgesehen davon, daß der große Abscheu vor jenen Verbrechen meist seine besonderen psychischen Quellen hat, krepieren ja die Kinder an den Verhältnissen dieser heutigen Welt zu Hunderttausenden, und der Mehrzahl der Überlebenden macht man die Wirklichkeit zur Hölle, wobei sich gar kein Abscheu in den so leicht entflammten Herzen regt. Die Kinderder Armen sind im Frieden zukünftiges Material der Ausbeutung und im Krieg das Ziel der Sprengstoffe und Giftgase. Die Herren dieser Welt entsetzen sich sehr zu Unrecht.»
Damals, nach dem Revisionsprozeß habe ich aus Düsseldorf für
Die Zeit
über die Gesellschaft und das Land berichtet, in denen ein Kind wie Jürgen Bartsch aufgewachsen ist:
«Unter den Kulturstaaten steht Deutschland mit einer langen, beschämenden Tradition an erster Stelle als der kinderfeindlichste. Da Kinder nicht strafmündig sind, darf es in der Bundesrepublik Deutschland keine Kinderkriminalität geben; man spricht statt dessen von ‹kriminellen Taten von Kindern›. Im Jahre 1970 gab es zirka siebzigtausend, und in den drei vorangegangenen Jahren war die Zahl um ein Viertel gestiegen. Am häufigsten kommen Eigentumsdelikte, Sachbeschädigung und Brandstiftung vor. Jedem Kind garantiert das Jugendwohlfahrtsgesetz das Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit, aber auf der anderen Seite räumt das Bürgerliche Gesetzbuch den Eltern fast uneingeschränkte Gewalt über das Kind bis zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag ein.
Auch heute noch halten zwei Drittel aller westdeutschen Eltern Schlagen für die ‹wirksamste› Erziehungsmaßnahme. Das Recht, ihre Kinder zu züchtigen, billigt sogar das Gesetz den Eltern zu. Bekannt wird nur etwa ein Fall von Kindesmißhandlung unter zwanzig. Auf zweihunderttausend Einwohner der Bundesrepublik kommt nur eine Erziehungsberatungsstelle.
Für jede gewöhnliche Tätigkeit verlangt man Nachweise von Fähigkeiten, aber mit der wichtigsten Aufgabe von allen – der Erziehung von Kindern – läßt die Gesellschaft die Eltern im Grunde völlig allein.
Es sollte niemanden überraschen, daß die Rückfallquote bei straffälligen westdeutschen Jugendlichen bei achtzig Prozent liegt. Bonn bezahlt für die Subvention von Butter, Fetten und Zucker in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft genausoviel – rund eine Milliarde Mark – wie für die gesamte Kinder- und Jugendhilfe.
Die Bundesrepublik hat nur für
Weitere Kostenlose Bücher