Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
abartige Triebhaftigkeit ungeachtet seiner Einsichtsfähigkeit nicht zu hemmen in der Lage sei, müsse eine erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit nach § 51 StGB zugebilligt werden. Ungeachtet der ‹Grenzen der menschlichen Erkenntnismöglichkeit› habe das Gericht die Grundfrage beantworten müssen: ob und in welchem Umfang Bartsch schuldig geworden sei. Die Anpassung des Menschen in der Gesellschaft, so legte der Vorsitzende dar, sei abhängig sowohl von den erblichen Anlagen als auch von den Umwelteinflüssen. Es sei zu berücksichtigen, daß Bartschs leibliche, [bald nach] seiner Geburtgestorbene Mutter hypersexuell veranlagt gewesen sei; auch Bartschs leiblicher Vater habe in seiner späteren Ehe immerhin elf Kinder gezeugt. Die Tatsache, daß Bartsch elf Monate nach seiner Geburt von dem Metzgerehepaar Bartsch adoptiert worden sei, habe man keineswegs als ‹Glücksfall› anzusehen; bestimmend für die weitere Entwicklung des Kindes sei vielmehr die ‹Bindungslosigkeit› zwischen ihm und der Adoptivmutter gewesen, die, wie ihre Vernehmung ergeben habe, ‹sehr hart mit ihm umgegangen› sei. Die Tötungsphantasien des Angeklagten hätten sich allmählich entfaltet. Zunächst sei der homosexuelle Trieb das Beherrschende, sei Gewaltanwendung nur Mittel zum Zweck gewesen. In den Abendstunden hätten diese Gewaltvorstellungen jedoch zu wuchern begonnen, so daß es bereits zur Zeit seines ersten Mordes, den er fünfzehnjährig beging, sein höchster Wunsch gewesen sei, Kinder bei lebendigem Leibe zu zerschneiden. Die Phantasien seien Wirklichkeit geworden bei Bartschs vierter Tat. Erst bei ihr habe Bartsch nach seinen eigenen Aussagen, das ‹ganz große, tolle Erlebnis› gehabt. Seit 1961/62 sei er ständig auf der Suche nach Opfern gewesen, der Trieb (den er selbst einmal als Raubtier bezeichnet hatte) habe schon damals vollen Besitz von ihm ergriffen. Nach seiner ersten Tat habe er zwar versucht, Abstand zu nehmen, indem er den Mord einem Priester gebeichtet und einem Freund gestanden habe, später jedoch habe es für ihn keine Tabuschranken mehr gegeben.»
Die VII. Strafkammer in Düsseldorf hat in der Tat ein fortschrittliches, mutiges Urteil gefällt, doch heute darf man auch auf dieses Urteil kritisch zurückblicken und den Kopf über jene Unlogik schütteln, mit der die Kammer zwangsläufig Gesetze hat anwenden müssen. Über den Revisionsprozeß schrieb Gerhard Mauz im
Spiegel:
«Rechtsanwalt Bossi … hat am ersten Tag des zweiten Bartsch-Prozesses erklärt, er hoffe auf zehn Jahre Jugendstrafe und anschließende Einweisung von Jürgen Bartsch in eine Heil- und Pflegeanstalt. Herr Bossi hat bei dieser Gelegenheit auch davon gesprochen, daß er halt realistisch sein müsse. Man darf also annehmen, daß ihm der Schwachsinn bewußt ist,der darin liegt, daß ein Verurteilter zunächst eine Strafe verbüßen und anschließend geheilt und gepflegt werden soll.»
Die Unlogik zeigte sich schon in diesem Paradox – und das in einem Fall, in dem Strafe absolut keinen Sinn hatte, es sei denn, sie könnte die Rachelust der frommen und völlig unschuldigen Mitbürger des Jürgen Bartsch befriedigen.
Der Prozeß gegen Jürgen Bartsch gab Anlaß genug, daran zu erinnern, daß man in aller Geschichte vergeblich nach einem Menschen suchen wird, der ein besserer Mensch wurde, weil man ihn demütigte, ihm weh tat, ihn hart behandelte. Schlauer, vorsichtiger, listiger, heimtückischer schon; aber besser? Niemals.
Wilfried Rasch hat in Düsseldorf seine eigene Gesellschaft angeklagt: «Bei Jürgen Bartsch liegt eine alles durchdringende Anomalie vor. In seinem kurzen Leben kam ein Schaden zum anderen. Er hatte keine Chance, sein Wesen zu entwickeln. Die Perversion ist sein Leben geworden … Fünf Jahre lang seit seiner Festnahme hat Jürgen Bartsch jede Nacht Kinder ermorden müssen, und wir haben nichts getan; als zugesehen.»
Noch Jahre später schrieb Rasch: «Nach den Ergebnissen einiger Untertests ergab sich der Verdacht auf eine erworbene Störung der Intelligenzfunktion, ein Befund, der im Verfahren die Diskussion unvermeidlich machte, ob nicht doch eine hirnorganische Schädigung für Bartschs Entwicklung entscheidend war. Seine auffällige Art, in seinen Schilderungen an einem Gedanken haften zu bleiben oder ein Wort mehrfach zu wiederholen und ein gelegentliches Stottern wiesen in die gleiche Richtung. Vielleicht wäre es beruhigend, könnte man das Phänomen Jürgen Bartsch von
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