Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
arbeiten. Die beiden Jugendpfleger schlossen ihren imponierenden Bericht mit etwas mehr Optimismus als die drei Ärzte: «Eine kleine Hoffnung bleibt immer noch», sagten sie, und empfahlen, Jürgen Bartsch einzusperren, um die Gesellschaft zu schützen, aber ihn «von einem Arzt beziehungsweise einer Mannschaft von Ärzten» behandeln zu lassen.
Erkundigungen bei anderen Personen, die der Familie nahestanden, fügten dem Mosaik weitere Steinchen hinzu. Ich erfuhr, daß Frau Bartsch trotz ihres mütterlichen Äußeren wenig oder keine menschliche Wärme ausstrahlte und daß es zwischen den Eltern keine sichtbare Zärtlichkeit gab. Wer die Familie nur oberflächlich kannte, fand Frau Bartsch «weich, gefügig, untergeordnet», und nach außen bestimmte nicht sie, sondern Herr Bartsch. Dies gehört jedoch zu dem Bild, das die Soziologen «Deckungsverhalten» nennen – eine Fassade, die die wirklichen Zustände in der Familie verdeckt. Jürgen wurde oft körperlich gezüchtigt, meist wegen Kleinigkeiten und fast immer von seiner Mutter, das hing ganz von ihrer jeweiligen Laune ab. Die Ausdrücke, die Frau Bartsch gebrauchte, als sie ihre erste Begegnung mit Jürgen beschrieb («das Goldkind», «das goldige Kerlchen» usw.), zeigen, daß sie ihn äußerlich reizend fand, offenbaren aber wenig innere Beziehung zwischen ihr und dem Adoptivkind.
Kurz nach Jürgen Bartschs Verhaftung stellte ihn einer der Sozialarbeiter vom Jugendamt auf die sogenannte Wunschprobe (nach Alfred Adler): Jürgen sollte die drei ersten Wünsche nennen, die er haben würde, wenn er noch in seinen alten Verhältnissen lebte. Er sagte sofort, er wünsche sich, seine innere Veranlagung sei «normal». Und nach einem kurzen Zögern sagte er, er wünsche sich mehr Kontakt und Freunde. Der dritte Wunsch: «Daß ich zu Hause bleiben könnte, und daß die Eltern keine Spannungen und kein Geschäft haben sollten, und daß ich mehr spielen könnte.» Zur Zeit dieser Äußerung war Jürgen Bartsch schon fast zwanzig Jahre alt.
Die Befragung der drei Psychiater durch die Verteidigung warfeinige Streiflichter nicht nur auf Jürgen, sondern auch auf die Sachverständigen selbst. In Erwiderung auf Jürgens Behauptung, er habe an Kontaktlosigkeit gelitten, führte einer von ihnen seinen «Kontakt» mit dem Gefängnispfarrer an, mit dem Verteidiger Heinz Möller und mit den Untersuchungsärzten, ohne auf die qualvollen Jahre vor seiner Festnahme überhaupt einzugehen. Einer der beiden Hauptsachverständigen, Prof. Dr. Hans Ludwig Lauber, sprach von dem Düsseldorfer Triebmörder Peter Kürten und sagte, wenn Kürten an den Wohnungen seiner toten Opfer vorbeigekommen sei, habe er einen Orgasmus «erlitten». Der andere, Bresser, gebrauchte wiederholt die Ausdrücke «depravierte Persönlichkeit» und «widernatürlicher Trieb», die dem Wortschatz des empörten Moralisten entstammen und nicht dem Vokabular des objektiven Wissenschaftlers. Da Lauber beharrlich Sadismus vom Geschlechtstrieb trennen wollte, wurde er von der Verteidigung gefragt, ob dieser Standpunkt nicht umstritten sei; daraufhin räumte er ein, die Frage sei «offen». (Bis zum zweiten Prozeß hatte Lauber seine Meinung um hundertachtzig Grad gedreht.) Derselbe behauptete später, was für Experten man noch heranziehen würde und woher auch immer sie kämen, über den Fall Jürgen Bartsch sei nicht mehr in Erfahrung zu bringen, als sie – die drei Ärzte aus Nordrhein-Westfalen – bereits festgestellt hätten.
Hans Ludwig Lauber schloß sein Gutachten mit einem Satz, der mich immer noch, fast ein Vierteljahrhundert danach, in Staunen versetzt: «Er wollte alles haben, darum muß ihm alles genommen werden»!
Als Tilmann Moser (damals Ausbildungskandidat am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut, heute Psychoanalytiker in Freiburg) in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung
den drei Gutachtern «provinzielle Überheblichkeit» nachsagte, schien der Vorsitzende selber deren Entrüstung zu teilen.
Erst ganz am Ende des Prozesses, von einer eifrigen Journalistin überredet, entschloß sich Frau Bartsch, aus der Deckung ihres ärztlichen Attests («Gallenleiden») hervorzukommen und in denZeugenstand zu treten. Zuerst sprach ihr der Vorsitzende sein tiefstes Mitgefühl aus; obwohl Jürgen nicht ihr «eigen Fleisch und Blut» sei, habe sie ihm viele Jahre ihres Lebens gewidmet, um einen guten Menschen aus ihm zu machen, und sei ihm «mit aller Liebe» begegnet. Woher der Vorsitzende diese
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