Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
hieß für ihn immer «der Junge». (Als Jürgen von seinen vier Opfern, und auch von anderen Kindern, sprach, sagte er fast nie einen Namen, sondern nur «das Kind» – bestimmt kein Zufall.)
Darüber, daß er «den Jungen» der Obhut der Großmutter und danach einer Reihe von Dienstmädchen überlassen habe, meinte der Vater, sein Sohn «hat’s nie so tragisch genommen», und damit war das Thema für den Vorsitzenden erledigt. Gerhard Bartsch räumte jedoch ein,
den
Fehler hätten er und seine Frau gemacht,dem Rat des seinerzeitigen Krankenhausarztes zu folgen und Jürgen zu verbieten, mit anderen Kindern zu spielen, damit er nichts von seiner Adoption erführe. (Gerichtlich festgestellt wurde allerdings nie, daß ein Arzt jemals einen so unwahrscheinlichen Rat erteilt hatte; es gab auch Widersprüche in den Erklärungen für diese strenge, pathogene Isolierung. Frau Bartsch nannte als Grund den starken Straßenverkehr – aber die Goethestraße in Essen-Holsterhausen, wo die Familie Bartsch damals wohnte, hatte praktisch keinen Durchfahrtsverkehr.)
Als Jürgen seinem Vater sagte, die Versetzung vom Rheinbacher Kinderheim ins Marienhauser Internat sei für ihn gewesen, als käme er aus dem Kinderheim zum Militär, «hab ich ihm geantwortet, ob er es da oder in der Armee lernte, das wäre egal». Gerhard Bartsch erklärte nicht, was er mit «es» meinte, und der Vorsitzende schien das für so selbstverständlich zu halten, daß er keine präzisierende Frage danach stellte. Herr Bartsch wußte von Anfang an, daß Jürgen nie «ein hundertprozentiger Metzger» werden würde. Als der Vorsitzende ihn fragte, ob Jürgen je mit ihm darüber gesprochen habe, antwortete Gerhard Bartsch: «Er hatte nicht den Mut, mir so etwas zu sagen.»
Es kam nie zu vertrauensvollen Gesprächen zwischen Vater und Sohn, nicht einmal während der halben Stunde am Morgen, wenn sie sechsmal in der Woche gemeinsam im Auto zur Arbeit fuhren. In einem Ton und in einer Art, als müsse jedermann die Triftigkeit seiner Erklärung einsehen, sagte der Vater: «Wissen Sie, Herr Vorsitzender, diese halbe Stunde frühmorgens war für mich die einzige Zeit am ganzen Morgen, wo ich Radio hören konnte.»
Er hatte interessante Dinge über die Periode zu berichten, in der Jürgen erst für seinen Kollegen van Loon und dann für ihn selber arbeitete: «Da gibt’s dieses Gesetz, das einem Meister verbietet, die Lehrlinge wirklich ordentlich ranzunehmen. Vierzig Stunden in der Woche darf man sie heute nur noch arbeiten lassen. Ich sehe das für verkehrt an. Wenn es um sechs in der Früh losgeht, dann haben sie mittags um drei schon Schluß. Was macht so ein Jungevon drei bis neun Uhr abends? Das kann nicht gut sein. Erst legen sie sich hin und schlafen, und dann sind sie abends um sieben oder acht, wenn wir müde sind, hellwach und kommen auf dumme Gedanken. Und dann darf man ihnen noch nicht einmal eine ordentliche Tracht Prügel verpassen. Ich hatte Angst, daß mir der Junge bei dem Kollegen verkommen würde, weil er da so viel Zeit hatte. Ich konnte ihn viel besser in die Mangel nehmen. Sechzig Stunden in der Woche, das ist nicht zu scharf für einen Sechzehnjährigen. Da war ich ruhiger, das konnte ich mit dem Jungen machen. Er war ja kein Fremder, sondern mein Sohn.» Jürgen Bartsch selber sah den Wechsel anders an: «Bei meinem Vater hab ich es in jeder Hinsicht schlechter gehabt. Da hab ich überhaupt keine Freizeit mehr gehabt.»
Die vielen Zeugen, die Gerhard Bartschs erster Vernehmung folgten, hatten kaum ein abfälliges Wort über Jürgen zu sagen. Der Leiter des «Magischen Zirkels», einer Essener Vereinigung von Amateurzauberern, der Jürgen angehört hatte (noch im Gefängnis trug er stolz das «MZ»-Abzeichen an seinem Revers), sprach im Sinne der meisten Zeugen, wenn er Jürgen als «ungezwungen, höflich, nett, anständig und korrekt», aber auch «nervös, zerfahren und vergeßlich» bezeichnete.
Der Fleischer van Loon, für den Jürgen in Essen-Altenessen gearbeitet hatte, sagte aus, Jürgen durfte immer, wenn seine Mutter einen Nachmittag mit ihm in Essen verbrachte, so viel Kuchen und Süßigkeiten essen, daß er am nächsten Tag Bauchschmerzen hatte. «Seine Mutter verwöhnte ihn. Was er haben wollte, bekam er.» Als der Vorsitzende fragte, ob Jürgen den Wunsch gehabt habe, Fleischer zu werden, erklärte sein früherer Dienstherr kategorisch: «Er mußte eben einer werden.» Seines Vaters wegen? «Ja!»
Jürgens Vater sagte,
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