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Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Titel: Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Moor
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er während all dieser krampfhaften Aktivitäten niemanden, an den er sich wenden konnte, um Hilfe oder auch nur Verständnis oder Mitleid zu erlangen.
    Nicht aus Mangel an Willenskraft blieben Jürgen Bartschs Probleme unbewältigt. Als der Richter auf die zehn bis zwölf Besuche bei Essener Nutten anspielte und sarkastisch meinte, Bartsch habe sich an solchen Abenden doch zweifellos amüsiert, antwortete dieser mit einiger Heftigkeit: «Ich möchte, Herr Landgerichtsdirektor, schon sagen, das hatte mit Amüsieren nichts zu tun!»
     
    Zur Zeit seines ersten Mordes fand Jürgen Bartsch zum zweiten Mal in seinem Leben einen Freund: Viktor. Wie Jürgen wohnte er in der Siedlung «Glaube und Tat», und nach einer Anfangsperiode «wahrer Freundschaft» . (was in Jürgens Vokabular «ohnesexuellen Beiklang» hieß) nahm Viktor gleichfalls für sexuelle Gefälligkeiten Geld von ihm. Nicht einmal in diesem Verhältnis, das beträchtlich weiter ging als das mit Detlef, kam es zu Küssen. In Jürgens ganzem Dasein bis zur Zeit des ersten Prozesses hatte es kein einziges sexuelles Erlebnis mit einem Zeichen der Zärtlichkeit gegeben.
    Am 18.   Juni lockte Jürgen Bartsch den vierzehnjährigen Peter Frese in den Bunker, schlug und fesselte ihn und ließ ihn zurück, um pünktlich nach Hause zu gehen zu «dieser blöden, schweren Suppe, die ich immer essen mußte», damit seine Mutter ihn nicht schalt. Peter Frese wußte aber aus Filmen, was er zu tun hatte: Bei einer brennenden Kerze allein gelassen, sengte er seine Fesseln durch und flüchtete. Als Jürgen später am Abend wiederkam, um ihn abzuschlachten, und ihn nicht mehr vorfand, war seine erste Reaktion Enttäuschung: «Na   … so ’ne halbe Sache!» Obwohl er wissen mußte, daß Freses Flucht unvermeidlich zu seiner Verhaftung führen würde, machte sich Jürgen Bartsch nur drei Tage später – einen Tag bevor die Polizei zu den Bartschs kam – nach Mülheim auf, um sich ein neues Kind zu suchen. Dem Gerichtsvorsitzenden, der sich über so viel Kaltblütigkeit wunderte, antwortete Jürgen in einem Ton, der erkennen ließ, daß er nicht anders hatte handeln können und daß man solchen unwiderstehlichen Trieb doch verstehen müsse: «Ich war ja noch vollkommen unbefriedigt!»
    Als der Vorsitzende Jürgen einmal fragte, ob er jemals Grauen vor sich selber empfunden habe, erwiderte er nach einem langen Seufzer mit verzweifelter Stimme: «Herr Vorsitzender, das setzt voraus, ich könnte regulieren – jetzt kannst du, jetzt kannst du nicht. Aber ich konnte das nicht regulieren.» Unzählige Jungen und Mädchen in jedem Land der Welt, alle Opfer eines Mangels an Aufklärung über die Harmlosigkeit der Masturbation, nehmen es sich immer und immer wieder vor, nie mehr zu onanieren – und werden so gut wie ausnahmslos, schuldbeladen und sich schämend, rückfällig. Jürgen Bartschs Unfähigkeit, nicht mehr zu töten, entspricht der Unfähigkeit solcher Jugendlichen, nichtmehr zu masturbieren. In beiden Fällen geht es um die buchstäblich unwiderstehliche Versuchung des höchsten sexuellen Genusses: den Orgasmus.
    So unregulierbar Jürgen seinem Trieb preisgegeben war, so intakt blieb selbst mitten im schlimmsten Tumult seine sonstige Kontrolliertheit und Selbstregulierung, zum Beispiel bei der pünktlichen Zeiteinteilung. Bei einer nächtlichen Rückkehr zu einem gefesselten Kind im Bunker nahm Jürgen einen kleinen Reisewecker mit: Seine Mutter hatte ihm verboten, seine Armbanduhr außer sonntags zu tragen. An einem anderen Abend, nachdem er einen Mord begangen hatte und die Höhle gegen acht Uhr verließ, traf er seinen Vater im Familienauto. Herr Bartsch hatte sich auf die Suche nach seinem Sohn begeben, weil Jürgen nicht pünktlich nach Hause gekommen war, obwohl es immer noch verhältnismäßig früh war.
     
    Als Gerhard Bartsch, Jürgens Adoptivvater, den Zeugenstand betrat, sagte ihm der Richter, daß «jeder der hier Anwesenden» ihn als «einen anständigen, biederen Metzgermeister» betrachte. (Mehrmals im Laufe des Prozesses sprach der Vorsitzende Dr.   Wülfing, als wenn er irgendwie automatisch im Namen des Volkes spräche.) Jürgens Vater bagatellisierte die Berichte über häusliche Streitigkeiten. Sein Arbeitstag, sagte er, beginne um sechs und ende vierzehn Stunden später. Wenn er von seinem Verhältnis zu Jürgen sprach, gebrauchte er Wörter wie «zugetan», aber niemals solche wie «Liebe». Den Namen «Jürgen» benutzte er fast nie; sein Sohn

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