Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
Haut heraus.
In Marienhausen haben, möchte ich sagen, die meisten schon mal damals irgendeine «Sauerei» gemacht. Wissen Sie, man sah natürlich schon mal «dieses oder jenes». Bei der nachmittäglichen Lernstunde sah ich einmal, wie ein Junge einem anderen, welcher kurze Shorts anhatte, in die Hose hineingriff. Sie konnten das ohne große Gefahr tun, weil sie in der letzten Reihe an der Wand saßen. Wenn man sie verpetzt hätte (dazu wurden wir aufgefordert), hätte man sich bei den Priestern ziemlich beliebt machen können.
Wenn man nachts aufwachte, konnte man manchmal kurz nacheinander zwei Jungs in Richtung der Toilette verschwinden sehen. Dort riegelten sie sich dann in eine 0 0-Zelle ein. Einmal habe ich gesehen, wie ein Junge zu einem anderen ins Bett schlüpfte. Das hätte ich auch gern einmal getan, aber es war natürlich mit das Gefährlichste, denn es konnte ja immer ein anderes Kind wach sein. Sie wissen ja, «der Verräter schläft nie!» Aber ich hätte es getan, hätte ich den Mut dazu gehabt.
Am liebsten wäre ich ins Bett zu einem anderen Jungen gekrochen oder auf einem weiten Waldspaziergang, von denen wir oft welche machten, hätte ich mich mit einem «Gleichgesinnten» für kurze Zeit in die Büsche geschlagen. (Das kam auch schon mal vor.) Ich stellte es mir so vor: Wir hätten uns gegenseitig die Hosen heruntergezogen und auch wohl onaniert, in den Arm genommen … Dabei wäre mir die Umarmung, die Haut, die Wärme des Körpers des anderen Jungen sogar noch etwas wichtiger gewesen als das Onanieren.
Das Gefühl, etwas Böses zu tun, wie z. B. später beim Onanieren, das hatte ich am Anfang nicht. Ich wußte ja nicht, was ich tat, und ich hatte kein Gefühl des Bösen. Damals hatte ich andere Jungs schon mal übers Wichsen reden hören, aber ich habe ans Schuheputzen gedacht. Mal überraschte man solche beim gemeinsamenSpiel oder man hat manche zufällig gesehen, aber ich habe mich selber nie aktiv daran beteiligt. Ich hatte doch einen ziemlichen Horror davor. Einmal war ich doch ziemlich religiös, und ich kam da in so einen Zwiespalt rein. Auf der anderen Seite hatte ich den Wunsch danach, aber ich hatte auch Angst, deshalb ein paar auf die Schnauze zu kriegen.
Damals, am Anfang, hatte ich Phantasien nur vorher und danach. Das waren aber erotische Phantasien, keine sexuellen. Sie müssen verstehen, die Phantasien waren sauber und rein und klar wie ein Gebirgsquell. Damals lagen meine Phantasien eben in Richtung echte, edle Freundschaft usw. In der Phantasie habe ich das ja immer mitgehabt, von den Pfadfindern und so.
Aus allem, was ich manchmal damals in Marienhausen beobachten konnte, glaube ich sagen zu dürfen, daß die meisten anderen Jungen in dieser Beziehung genau so empfanden wie ich. Die angeblichen «Sauereien» waren nicht etwa roh oder brutal, wie man vielleicht annehmen könnte, sondern eher zärtlich. Ich glaube, solch eine «homoerotische» Zeit macht jeder Knabe durch.
Ein Gespräch über die Adoption hat es gegeben, hauptsächlich mit meinem Vater. Ich hatte damals gerade 20.– DM aus dem Geschäft gestohlen, hatte dafür eine Pistole von einem anderen Lehrling kaufen wollen, und mein Vater hatte mich erwischt. Etwa zur selben Zeit erfuhren meine Eltern von anderen Leuten (ich hatte mich verplappert), daß ich von der Adoption wußte.
Mit meinem Vater ging ich auf seinen Wunsch morgens ganz früh durch die Siedlung spazieren, und er erzählte mir alles, warum und wieso, und er war so nett zu mir und so freundlich, wie nie vorher und wie fast nie hinterher. Ich sagte ihm auch ehrlich, daß es mir gar nichts ausmache, im Gegenteil. Er war daraufhin richtig glücklich, so schien es mir, ich hatte ihn noch nie so frei und offen gesehen. Er sagte, er wolle die 20.– DM gerne vergessen und glaube bestimmt, daß ich so etwas nie wieder tun würde. (Umso gemeiner war es von mir, später doch wieder zu stehlen.)
Ich glaube, ich hätte viel mehr Halt an meinem Vater gehabt,wäre er immer so gewesen wie an jenem Tag. Als wir nach Hause kamen, ging das übliche Theater wieder los. Meine Mutter sprach kein vernünftiges Wort mit mir über die Sache. Sie schimpfte nur, über die «Undankbarkeit», darüber zu fremden Leuten zu sprechen, über das Leben, das sie geopfert hatte, um eine Schlange großzuziehen usw., so das übliche.
Das ist eines von zwei Malen gewesen wo sich mein Vater in meinem Leben mit mir persönlich unterhielt, innerhalb von neunzehn Jahren
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