Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
denken kann, was es heißt, sein Kind verletzt an Leib und Seele oder gar tot wiederzusehen.
Was bleibt, als einziger Weg, sind Maßnahmen der Vorbeugung. «Vorbeugen ist besser als heilen», sagt ein Sprichwort. Und das ist an dieser Stelle noch viel zu milde ausgedrückt. Denn ein Kind, dem jedes Vertrauen zu anderen Menschen brutal entrissen worden ist, wer kann es heilen?
Eines möchte ich hier gleich vorweg sagen. Es wird wohl in keinem Falle genügen, sein Kind einmal oder zweimal im Jahr lapidar und leger darauf hinzuweisen: «Geh ja mit keinem fremden Onkel mit und nimm von niemandem etwas an.» Dieser stereotype Satz war und ist bis heute fast in jeder Familie die einzige, aber auch wirklich einzige Warnung vor dem «guten Onkel». Das reicht in keinem Falle aus! Wenn ich dazu einen Vorschlag machen dürfte, so folgenden:
Die Bezeichnung «Onkel», als Warnung ausgesprochen, ist für ein Kind vollkommen irritierend und irreführend. Das Kind sieht einen «Onkel», weil es ja so viele Onkel kennt (z. B. sagt die Mutter oft zum Kind: «Na gib dem Onkel schön die Hand!»), in den meisten Fällen von vornherein als eine gute Person, als einen guten Menschen an. Das Kind versteht also solche Warnung nicht recht und denkt sich: «Warum soll ich nicht mit einem Onkel gehen, wenn er lieb ist? Onkel Paul ist ja auch lieb.»
Für die meisten Kinder ist eben Onkel gleich Onkel. Lassen Sie also bitte den «guten Onkel» weg und sprechen Sie statt dessen vom «fremden Mann»; das ist eine ganz andere Tonart, eine unpersönlichere und für diesen Zweck weit bessere. Und, bitte, belassen Sie es nicht bei diesem einen Satz. Auch wenn es Ihnen nicht leicht fällt: Sie müssen einige kindliche Illusionen zerstören. Es ist vom Übel, gewiß, aber glauben Sie mir, es ist das kleinere.
Bringen Sie Ihrem Kinde so behutsam wie möglich bei, daß längst nicht alle Menschen gut sind. Und daß einige von diesen bösen, schlechten Menschen es gerade auf Kinder abgesehen haben. Es reicht sicherlich, wenn Sie ihm erklären, daß diese Menschen den Kindern Böses antun wollen, körperlich. Und wie wichtig es darum sei, sehr gut auf sich aufzupassen, weil die Mutter ja nicht immer dabei sein könne.
Weiter brauchen Sie und sollten Sie in Ihren Schilderungen dann nicht mehr gehen, denn damit ist die Aufnahmefähigkeit des Kindes wohl meist erschöpft. Nur sollten Sie Ihrem Kind (aber bitte nicht mehr am gleichen Tage, sonst wird es zuviel) noch genaue Anweisungen geben, wie es sich verhalten soll, wenn es doch einmal böse hereingelegt worden ist. Sagen Sie jetzt bitte nicht: «Aber wenn ich mein Kind genügend gewarnt habe und es auch aufpaßt, kann es dazu doch gar nicht mehr kommen.»
Diese Auffassung ist leider vollkommen falsch!
Denn immer häufiger sind die Täter gute Bekannte oder gar Verwandte des Kindes und somit auch der Eltern. Etwa der Untermieter, der Nachbar von nebenan oder der Onkel, manchmal auch ein Neffe oder Vetter. Oft kam es in der letzten Zeit sogar vor, daß der Sittenstrolch ein älterer Spielkamerad des betreffenden Opfers war. Was, so meine ich, besonders erschütternd ist, denn wo soll es enden, wenn Kinder Kinder morden?
So kann es also durchaus geschehen, daß, bei aller Vorsicht der Eltern und auch des Kindes, doch «etwas passiert», also das Opfer erst viel zu spät merkt, in welche Falle es gelockt wurde. Die Folge dieses Erkennens hat bei dem Kinde meist panikartige Angst zur Folge, die sich auf zwei vollkommen verschiedene Arten ausdrückt, nämlich je nach Charakter und Persönlichkeit des Kindes. Entweder ist das Kind vor Angst und Entsetzen derart eingeschüchtert, daß es sich kaum rühren kann und jeden Befehl des Verbrechers vollkommen widerstandslos ausführt, oder es kann noch ein wenig denken und weiß sich keinen Rat als laut um Hilfe zu schreien, sich zu wehren, zu strampeln, kratzen und beißen.
Da diese Reaktionen meist vollkommen unkontrolliert sind, kommt es für die Eltern, also für Sie, darauf an, Ihrer kleinen Tochter oder Ihrem kleinen Sohn klarzumachen, daß er oder sie eben nicht unkontrolliert reagieren darf. Der Grund dafür: die eine Reaktion sowie die andere ist oft die völlig falscheste, im ernstesten Falle sogar tödlich für das Kind.
Damit Sie mich auch wirklich recht verstehen, werde ich Ihnen ein paar ganz konkrete Beispiele vor Augen zu führen versuchen.
Die kleine Marion, acht Jahre alt, ist (was nicht sein sollte!) auf dem Rummelplatz allein und
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