Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
wollt Ihr denn?», sagte er vor zweieinhalb Jahren zur Polizei, «natürlich gebe ich zu, Ihr könnt mir deswegen heute ja doch nichts mehr am Zeug flicken.» Ich war damals acht oder neun. Den ganzen Abend war ich schwer nervös und ängstlich, «schockiert», wenn man so will, ich hatte ja nicht gewußt, daß es «so was» gibt. Ich hatte eine furchtbare Angst vor «Bub».
Als wir uns spät an der Tür verabschiedeten, sollte ich ihm die Hand geben und «auf Wiedersehen» sagen. Ich war aber sicher, daß er mir irgend etwas antun würde, und so drehte ich einfach durch. Am Himmel leuchtete ein rotgrünes Licht vom Flugzeug, ich schrie «Hilfe, das wirft Bomben!!!» und flüchtete von der Haustür in den Garten. Ich sah und hörte nichts mehr, ich rannte nur noch. Aufgewacht bin ich später, ich bin in einen Stacheldrahtzaun gelaufen mit dem Gesicht zuerst und hatte mir die ganze linke Augenbraue quer aufgerissen. Es dauerte lange, bis die große Wunde verheilt war, und sie ist auch heute immer noch so gut zu sehen, daß sie als Erkennungszeichen für die Verbrecherkartei dient.
Bis zuletzt besuchte ich meine Oma; als ich aus dem Jugendgefängnis kam, ging ich zuerst zu ihr. Sie starb letztes Jahr an Oberschenkelhalsbruch, und so lange ich sie besuchte, bekam ich immer jede Woche eine Tüte mit Obst und 1 oder 2 DM. Auch ihr Mann starb an Oberschenkelhalsbruch, im Heim, von ihm weiß ich sehr wenig, er sprach fast nie, rauchte und las nur und konnte nie so recht laufen.
Als meine Oma mütterlicherseits starb, war ich zwanzig Jahre. Opa mütterlicherseits: etwa fünfzehn Jahre alt. Als mein Opa väterlicherseits starb, war ich noch im großen Teich.
3. Beschreibe bitte Deinen Vater wie für jemanden, der nichts von ihm weiß.
Herzensguter Mensch, mit rauher Schale, der seine Gefühle schlecht zeigen kann! Ich glaube 54 Jahre alt, Fleischermeister. verheiratet, Haus, Geschäft, Wagen, Oberfeldwebel im Krieg oder «Oberschirrmeister», verwundet an der Hüfte, freiwilliger Soldat, eine lebende Mutter und eine Schwester … ein Kind adoptiert.
[Aus einer zuverlässigen, der Familie Bartsch nahestehenden Quelle erfuhr ich eine psychologisch interessante Einzelheit über den Hintergrund seines Vaters, die Jürgen unbekannt geblieben war. Der Vater des Metzgermeisters Gerhard Bartsch war auch Metzger. Nach seinem Tod heiratete seine Witwe einen anderen Metzger, der sich aber anscheinend hauptsächlich für das Geschäft interessierte: Im Laufe der Zeit knüpfte der zweite Ehemann ein sexuelles Verhältnis zu einem Lehrjungen an. Seine Ehefrau hat das früher oder später erfahren und ihren Mann daraufhin bei der Polizei angezeigt – ein vernichtender Schritt in der damaligen Zeit. Das Ganze hat auch Gerhard Bartsch miterlebt, und es wird kaum ohne Wirkung auf seine eigenen Kindererziehungsmethoden geblieben sein.]
4. Versuche bitte alles aufzuschreiben, das Dir über Deine eigenen Eltern bekannt ist, auch ungefähr wann Du es zum erstenmal hörtest.
[Keine Antwort.]
5. Dasselbe wie Nr. 3, diesmal über Deine Adoptivmutter.
Ich glaube, daß sie gut ist, aber etwas zu aufbrausend und heftig. Sie ist sehr selbstbewußt, ihre Erziehung ist zu streng, ein Kind wird dabei nicht unabhängig; sie ist der eigentliche «Herr im Haus». 55 oder 56 Jahre alt, noch gut aussehend für das Alter, sehr, sehr fleißig, zu sehr, möchte ich behaupten. Im Krieg und auch vorher nicht in irgendeiner Partei oder dergleichen. Sie hatlange bei Juden im Geschäft gearbeitet, bis diese aus Deutschland fortgingen. Eine Unterleibsoperation, und darum konnte sie keine Kinder haben. Ein Kind adoptiert.
Ich erinnere mich, was mir von allen Tanten und Bekannten als älterem Kind, auch als Jüngling noch, vorerzählt wurde, und was mich immer, ich kann es nicht anders sagen, regelrecht ankotzte: «Ach nein, er war so süß, der Kleine, er sah ganz wie ein Mädchen aus, und die Mutti hat ihm die Locken – er hatte so wunderbare Locken! – immer ganz lang bis über die Schultern wachsen lassen, und dann als er im Kindergarten saß, zeigten die Leute mit Fingern und sagten: «Hast du so ein nettes kleines Mädchen schon mal gesehen?» und wollten es gar nicht glauben, daß es ein Junge war.»
Zu einer unserer Verkäuferinnen (wir haben sie seit meiner Verhaftung nicht ausfindig machen können) hatte ich ein viel herzlicheres Verhältnis als zu meiner Mutter. Das fand ich unter den Umständen
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