Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
blöd und eine große Ungerechtigkeit war, wochenlang beschäftigt, ich wurde innerlich nicht so recht fertig damit. Dann zog ich (in den Ferien) erst meine Tante Marthea in’s Vertrauen, diese dann meine Eltern, und sie sprachen dann mit Appel, worauf dieser sich zähneknirschend bei mir entschuldigte.
Nun denken Sie aber bitte nicht, daß es mir nun in dieser Beziehung (schlagen) am schlechtesten ging. Es ging uns allen so. Einmal wurde es (in der 6. Klasse) sogar rein unmenschlich und unerträglich. Ein neuer «Aufpasser» war gekommen, ein Diakon; lang, dürr, mager und mit tiefer Stimme. Er war noch ziemlich jung. Dieser Mann machte sich, so schien es, einen Sport daraus, uns zu quälen und zu schlagen. Aus reiner Notwehr griffen wir dann zu einem verzweifelten Mittel.
Der «Schläger», so nannten wir ihn, mußte immer beim Essen die Aufsicht halten. Jedesmal, wenn er mal herausgerufen wurde oder so, nahmen wir alle unsere Bestecke und schlugen sie hart auf den Tisch und trampelten wie verrückt auf dem Boden auf. Dann kam im Nu der Direktor oder der Präfekt angelaufen, aber dann waren wir wieder ruhig. Wir hätten ja denen etwas sagen können? Wohl kaum, einen Seelsorger, so wie wir beide dies Wort verstehen, gab es dort nicht, obwohl diese Menschen Priester waren. Anvertrauen konnte man sich niemand, seit der Provinzial Dr. Martin fortgegangen war.
Das Buch [
Der goldene Armreif
] fesselte mich derart, weil dort so natürlich und echt eine wirkliche Freundschaft beschrieben wird, genauso wie der sie sich vorstellt, welcher sie nicht kennt. Freundschaft nicht wegen Auto und Geld (Viktor), wegen Freßpaketen, die man geschickt bekommt (Internat), keine fünf-Minuten-Freundschaft,die meinetwegen geschlossen wird, weil der andere «groß und stark» ist, sondern eine Zuneigung, Sympathie muß dabei sein, die vom Herzen kommt, sage keiner, unter Kindern gäbe es das nicht, nur finden muß man halt einen, und dann sich nicht so dumm, nicht so gemein benehmen wie ich. Denn Detlef B. hätte ein Freund für’s Leben werden können.
PaPü erzählte mir (allein) persönlich, auf der Empore neben der Kirchenorgel (!) von diesem Gilles oder wie er heißt. Zu Beginn, wenn ich mit ihm allein oder auch mit noch anderen Meßdienern mit ihm auf der Empore saßen, spielte er mit unseren Händen immer «Gelenkeknacken», Sie kennen das ja sicher. Ob er mit den anderen außer dem, der zum Psychiater ging, etwas angestellt hat, kann ich nicht beweisen, aber ich halte es nach dem, was ich erlebte, für sehr wahrscheinlich. In der Schule und auch beim Spiel in der Freizeit, gab er sich als «Puschkin-Bär», hart aber gerecht, na ja. Das Irritierende ist ja gerade, daß er ganz anders, ungezwungener, draufgängerischer auftrat als man sich einen «Knabenschänder» . (wie der hl. Paulus sagte) vorstellt.
In der Klasse «gestand» er uns einmal, daß auch er mit Satanas, mit Versuchungen zu kämpfen habe, aber er werde wohl, so der Herr wolle, Sieger bleiben. Wenn er über «Schweinereien» sprach, erklärte er uns pauschal, jeder Mensch, der z. B. feuchte Hände habe, sei homosexuell. Bei der Gelegenheit sprach er auch mehr oder weniger offen (aber nicht etwa beim Biologie-Unterricht!) vom steifen Glied, er sagte immer «wenn sich das Blut staut».
Herr Möller hat sich heute sehr eingehend gerade über diese bewußte Nacht mit mir unterhalten, ich wollte erst gar nicht recht mit der Sprache heraus. Ich glaube auch, da die zehn Jahre noch nicht um sind, sollte ich eigentlich Anzeige erstatten, was sagen Sie denn dazu? Denn, um ganz offen zu sein, hat er nicht wenig mit meinem Ausreißen damals aus dem Don-Bosco-Heim zu tun.
Auch hat er mir (wie ich es später auch bei anderen tat, leider)nach der Nacht in der Eifel gedroht, für den Fall, daß ich die «Schnauze aufreißen» würde. Ich war froh, als ich von ihm weg war, und darum konnten mich seine Briefe (ich weiß nur von einem) nicht besonders rühren. Und wenn meine Mutter nicht darauf gedrängt hätte, ihn in der Eifel zu besuchen, wäre ich nie mehr mit ihm zusammengetroffen. Ich war nämlich wirklich zu feige, wie die meisten Kinder in solchem Fall, den Mund aufzutun.
Hoffentlich sind Sie mir nicht böse, weil ich mich noch nicht detailliert über die verdammte Nacht ausgedrückt habe. Herrn Möller habe ich es eben in allen Einzelheiten gesagt; lassen Sie mir Zeit bis zum nächsten Brief, bitte. Schauen Sie, es ist schwerer, zu sagen, was mal mit
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