JULIA ARZTROMAN Band 26
streifte Handschuhe über und zog sich einen Stuhl zur Couch. Als er saß, inspizierte er die Wunde sorgfältig und tupfte dabei immer wieder das Blut ab, um freie Sicht zu haben. „Tut bestimmt weh.“
„Natürlich tut es weh. Eine lokale Betäubung kann nicht schaden, bevor Sie anfangen, darin herumzustochern.“
Er lachte leise, hob den Blick und sah Melinda lächelnd in die Augen. Lucy verspürte einen Stich. Absurd, jetzt war sie plötzlich eifersüchtig! Und Dragan auch, falls sie seine säuerliche Miene richtig deutete. Sie fragte sich, wie Melinda und er zueinander standen. Irgendetwas verband sie, aber was?
Liebe? Freundschaft? Zwei Fremde in einem fremden Land? Dragan war gebürtiger Kroate, lebte jedoch seit früher Jugend in England. Über seine Vergangenheit sprach er nie, doch da waren Schatten in seinen Augen, eine rätselhafte Melancholie. Über Melinda wusste Lucy auch nicht viel. Eine Aura ruhiger Würde umgab die schlanke junge Frau, und ihre feine, anmutige Haltung ließ darauf schließen, dass sie aus guter Familie stammte. Trotzdem war sie nie hochnäsig oder überheblich, sondern herzlich und offen zu jedermann.
Lucy blickte auf und stellte fest, dass Dragan sie gedankenverloren betrachtete. Dann glitt sein Blick zu Ben und wieder zurück zu ihr. Oje, dachte sie, ist es so offensichtlich? Als hätte ich einen Aufkleber auf dem Bauch: Dies ist das Kind von Ben Carter .
Oder bildete sie sich das nur ein?
„Lucy, kannst du den Arm abbinden? Und ich brauche sterile Kochsalzlösung, um die Wunde zu spülen.“
Sie schob ihre Gedanken beiseite und konzentrierte sich darauf, Ben zu helfen.
Er betäubte die Stelle und nähte die Vene so geschickt, dass Lucy nur voller Bewunderung zusehen konnte. Danach reinigte er die Wunde und löste die Staubinde, um zu prüfen, ob die Naht hielt. „Gut“, murmelte er, säuberte die Wundränder und klammerte sie mit Steristrips zusammen.
Das Ganze hatte nur ein paar Minuten gedauert.
„So.“ Er lockerte die Schultern und nickte zufrieden. „Das dürfte reichen. Halten Sie die Wunde trocken und nehmen Sie ein Breitband-Antibiotikum, dann sind Sie auf der sicheren Seite. Lucy, kann ich bitte einen sterilen, nichtklebenden Verband haben?“
„Sicher.“ Sie reichte ihm die Packung und half ihm beim Verbinden.
„Vielen Dank.“ Melinda stand auf, als er fertig war. „Ich muss jetzt zurück zu der Hündin.“
„Melinda, das sollte wirklich jemand anders machen“, antwortete Dragan.
„Nein, warum? Sie ist nicht bösartig, nur verängstigt. Ich hole mir eine der Sprechstundenhilfen dazu.“
Dragan murmelte etwas fremdländisch Klingendes vor sich hin. „Ich muss bleiben, wegen dieser Besprechung, aber du hast deinen Wagen nicht hier“, sagte er dann zu Melinda.
Lucy hatte das Rezept ausgestellt und reichte es Melinda. „Mach dir keine Gedanken, Dragan. Ben und ich haben schon alles besprochen, und in fünf Minuten fängt meine Sprechstunde an. Ich erzähle es dir morgen. Wir können uns ja in ein, zwei Wochen wieder mit Ben treffen.“
Er nickte, schüttelte Ben die Hand und bedankte sich, ehe er Melinda aus dem Zimmer begleitete.
Ben warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Na, dann will ich auch mal los. Ich hole dich nachher ab. Um halb sieben?“
Lieber nicht, dachte sie. Falls ihr Vater in der Nähe sein sollte. „Sieben Uhr finde ich besser. Bei dir zu Hause?“
„Einverstanden. Weißt du den Weg noch?“
Was für eine Frage! Sie kannte ihn in- und auswendig. Wie oft war sie die Straße entlanggefahren, ohne den Mut aufzubringen, bei ihm zu klingeln und ihm zu sagen, dass sie einen Fehler gemacht hatte, dass sie doch mit ihm zusammen sein wollte. Später, nachdem sie entdeckt hatte, dass sie schwanger war, unternahm sie mehrere Anläufe, ihm davon zu erzählen. Aber letztendlich hatte sie sich nicht getraut.
„Ja“, sagte sie nur. „Und vielleicht doch erst um acht, dann kann ich vorher etwas essen.“
„Nicht nötig, ich koche uns etwas.“
„Gut, also um halb acht.“ Lucy hatte beschlossen, nach der Sprechstunde nach Hause zu fahren, zu duschen und sich etwas Hübsches anzuziehen. Auch wenn der Ausdruck hübsch und ihr Kugelbauch vielleicht nicht zusammenpassten … Egal, sie wollte wenigstens versuchen, ein bisschen attraktiver zu wirken!
Sie begleitete Ben bis zum Ausgang, verabschiedete sich und ging in ihr Sprechzimmer. Vom Fenster aus beobachtete sie, wie er in seinen BMW stieg und davonfuhr.
Es war kurz vor
Weitere Kostenlose Bücher