Julia Arztroman Band 62
Weise ihre trübsinnige Stimmung zu vertreiben.
Vom Dorfplatz mit seinem Kriegsdenkmal hörte sie lautes Hämmern. In der Mitte des Platzes stellten Mitarbeiter der Gemeindebehörde gerade die riesige Fichte auf, die jedes Jahr zu Weihnachten das Dorfzentrum schmückte.
In der einsetzenden Dämmerung begannen ringsum an den Fenstern und in den Gärten allmählich überall Lichterketten aufzuleuchten. In den grauen Steinhäusern lebten Libbys Patienten und Freunde, und gleich bei ihr nebenan gab es einen Mann, der achtlos ihr Herz in seinen Händen hielt. Der Mann, den sie schon immer geliebt hatte und auch immer lieben würde.
Falls Toby nicht sein erstes Weihnachtsfest in Swallowbrook feiern würde, wäre Libby vielleicht für die zwei Tage, an denen die Praxis geschlossen blieb, weggefahren. Doch wenn sie wenigstens einen kleinen Teil dazu beitragen konnte, die Lücken im Leben des Jungen zu füllen, dann musste sie seinetwegen bleiben.
Der Pastor und seine Familie kamen gerade von einem Ausflug in die bereits frostbedeckten Berge zurück, und als Libby an ihrem Haus vorbeiging, wurde sie zu einem heißen Grog eingeladen.
Wie der Pastor erzählte, war in diesem Jahr noch keine Hochzeit für Weihnachten angekündigt, was ihm ungewöhnlich erschien. Mit einem Blick auf Libby dachte er dabei, wie schön es wäre, wenn er eines Tages die große Freude hätte, die junge engagierte Ärztin zu trauen, die in Swallowbrook einen ganz besonderen Platz einnahm.
Die Herzlichkeit der Pastorenfamilie und der heiße Grog sorgten dafür, dass Libbys Stimmung sich merklich hob. Als schließlich die Dunkelheit hereinbrach, kehrte sie beschwingt nach Hause zurück.
Dennoch konnte sie die Erinnerung an die Nacht, die für sie der Beginn einer glücklichen Beziehung hätte sein sollen, nicht verdrängen. Und jetzt stand ihr ein Abend mit höflicher Unterhaltung und gezwungenem Lächeln bevor.
Ehe sie zum Umziehen nach oben ging, packte Libby die Weihnachtsgeschenke ein, die sie für Toby und Nathan gekauft hatte. Für Nathan einen Kaschmirpullover und für Toby ein batteriebetriebenes Modellboot, das genauso aussah wie „Pudding“. Damit konnte er dann in der Badewanne spielen.
Als sie den Pullover einpackte, hielt sie ihn einen Moment lang an sich gedrückt und wünschte, sie könnte Nathan sagen, wie sehr sie ihn liebte. Doch er hatte sie schon zu oft zurückgewiesen.
Für ihren Vater hatte sie einen eleganten Bademantel besorgt, der ebenfalls hübsch verpackt wurde. Sie hätte ihren Vater gerne öfter gesehen, aber da er sich dort im Süden recht wohlzufühlen schien, hatte es keinen Sinn, ihm nachzutrauern.
John sollte von ihr eine Kamera bekommen, und jetzt musste Libby nur noch die Geschenke für ihre Mitarbeiter kaufen.
Es waren nur vier Wochen bis Weihnachten, aber für sie würde es wohl keine schönen Überraschungen geben.
Da hatte sie sich allerdings geirrt. Denn genau in diesem Augenblick rief ihr Vater an, dessen Stimme viel fröhlicher klang als sonst.
Bald erfuhr Libby auch den Grund dafür. Er erklärte, dass er zu Weihnachten nach Swallowbrook kommen wollte und noch jemanden mitbringen würde. Die neue Frau in seinem Leben.
„John hat uns zu sich eingeladen“, berichtete er. „Und ich hoffe, du freust dich für mich, wenn du Janice kennenlernst. Deine Mutter habe ich deshalb nicht vergessen“, meinte er verlegen. „Aber seit ihrem Tod habe ich mich schrecklich verloren gefühlt.“
„Das weiß ich“, antwortete Libby beruhigend. „Natürlich freue ich mich für dich, Dad.“
Nach dem Gespräch legte sie langsam das Telefon zur Seite. Offenbar würde sie bei dem Fest die Einzige sein, die sich nirgendwo zugehörig fühlte.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es Zeit war, sich für den Abend zurechtzumachen. Sie wählte ein schlichtes schwarzes Kleid, das ihre Gemütslage widerspiegelte, nur ein wenig abgemildert durch eine Goldkette und dazu passende Ohrringe. Als sie sich im Spiegel betrachtete, fiel ihr auf, wie blass und freudlos sie wirkte.
Eins ist jedenfalls klar, dachte sie. So düster, wie ich aussehe, wird Nathan sich nach dem heutigen Abend wohl kaum weiter um mich bemühen.
Sie brachten Toby zu dem Holzhaus am Fluss, mitsamt seiner Kuscheldecke und seinem Lieblingsteddy. Danach fuhr Nathan zum Hotel auf dem Plateau unterhalb der hohen Berggipfel hinauf.
Darüber, dass Libby nicht das blaue Kleid trug, verlor er kein Wort, sondern hatte sie vorhin nur nachdenklich
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