Julia Collection Band 25
werden. Sie ahmte das Benehmen ihrer Schwester nach, weil sie dachte, sie könnte dadurch die Zuneigung ihrer Adoptiveltern gewinnen. Doch das veranlasste Fenella nur, sie noch mehr zu hassen. Na gut, Fenella war ihr leibliches Kind gewesen. Jetzt, als Erwachsene, konnte Carly es ihren Adoptiveltern nicht mehr völlig verübeln, dass sie die eigene Tochter vorgezogen hatten. Wer weiß, vielleicht wäre es ihr in derselben Situation ähnlich gegangen. Aber die Erfahrung mit ihrer Ersatzfamilie hatte sie gelehrt, dass sie riskierte, gedemütigt und verletzt zu werden, wenn sie jemandem ihre Liebe schenkte.
In Gedanken noch ganz in ihrer Kindheit versunken, sah Carly auf den Bildschirm, und die Zahlen verschwammen plötzlich vor ihren Augen, sodass sie ein paarmal heftig blinzelte. Als sie wieder klar sehen konnte, starrte sie entsetzt auf die hohen Geldbeträge, die per Scheck vom Firmenkonto abgehoben worden waren. Es war fast völlig leer. Das konnte nicht sein. Weil Carly die ein- und abgehenden Summen sehr gut im Kopf hatte, wusste sie genau, dass auf dem Konto mehrere Hunderttausend Pfund sein müssten. Sie brauchten das Geld, damit sie am Ende des Monats die Rechnungen der Lieferanten bezahlen konnten und genug Betriebskapital übrig hatten, bis sie die Zahlungen ihrer Kunden erhielten.
Also, wofür waren all diese Schecks ausgestellt worden? Carly erinnerte sich nicht, sie unterschrieben zu haben. Eine fürchterliche Ahnung stieg in ihr auf, und es überlief sie kalt vor Angst. Dringender als alles andere musste sie sich schleunigst diese Schecks ansehen. Per Mail forderte sie Kopien an. Bis sie kamen, konnte sie nichts tun.
Da Carly sich völlig in ihre Arbeit vertieft hatte, fragte sich Ricardo, ob sie sich so von den seelischen Problemen ablenkte, mit denen sie nicht fertig wurde. Auch wenn sie es nicht ausdrücklich gesagt hatte, stand für ihn fest, dass sie während ihrer Kindheit ein schweres Trauma erlitten hatte.
Dass er sich Sorgen um eine Frau machte und sie beschützen wollte, war Neuland für Ricardo, und deshalb dauerte es einen Moment, bis er erkannte, in welcher Gefahr er war. Erschrocken über seine Gefühle, ermahnte er sich energisch, dass es ihm nur darum ging, Carly in seinem Bett zu haben.
„Carly!“
Sie warf Ricardo einen vorsichtigen Blick zu.
„Ich hoffe, du hast dich gestern Nacht ebenso nach mir gesehnt wie ich mich nach dir.“
Weil sie spürte, dass sie rot wurde, versuchte sie, das Gespräch abzublocken. „Ich möchte nicht darüber sprechen. Ich habe dir schon gesagt, dass ich damit nicht anfangen will.“
Doch Ricardo ließ sich nicht so einfach zum Schweigen bringen. Dafür war seine Sehnsucht nach ihr einfach zu groß. „Aber warum nicht? Vielleicht sind wir beide nicht besonders glücklich über die sexuelle Anziehungskraft zwischen uns, aber ich sehe keinen Sinn darin, so zu tun, als würde sie nicht existieren. Sie ist da, und anstatt sie zu ignorieren, sollten wir sie besser genießen. Dann werden wir zumindest unser sexuelles Verlangen nacheinander los.“
So einfach war das aber leider nicht. Wenn sie mit Ricardo schlief, würde es ihr Leben für immer verändern. War sie mutig genug, das zu akzeptieren? Oder wollte sie sich lieber für den Rest ihres Lebens wünschen, sie hätte es getan, und sich fragen, wie es wohl gewesen wäre?
„Ich will keine Beziehung zu dir“, erwiderte Carly. Wenn sie sich auf eine Beziehung mit ihm einließe, lief sie Gefahr, sich in ihn zu verlieben. Und dann würde sie leiden, wenn er sie schließlich zurückwies. Sie war immer zurückgewiesen worden, in ihren Pflegefamilien, von ihren Adoptiveltern, auf dem Internat. Selbst zwischen ihren besten Freundinnen Lucy und Jules bestand durch Abstammung und Erziehung eine besondere Bindung, die sie ausschloss, da sie sie nicht mit ihnen teilte.
„Aber du willst doch auch Sex mit mir haben, oder?“, hakte Ricardo nach.
Ihre Röte nahm noch zu. „Ich … ich glaube, ja.“
„Möchtest du, dass ich die Entscheidung für dich treffe?“
„Was sollte das für einen Zweck haben? Ein Mann mit deiner Erfahrung findet sicher problemlos eine andere, die keine Entscheidungshilfe braucht.“
„Sicher, das wäre kein Problem“, räumte Ricardo trocken ein. „Nur will ich dich. Und da wir gerade bei Beziehungen sind – wie viele hattest du denn schon?“
Auf die Frage war Carly nicht gefasst. „Also … ich … ich kann mich wirklich nicht erinnern. Außerdem geht dich das
Weitere Kostenlose Bücher