Julia Collection Band 57
ertragen müssen. Er hatte sie fast sein ganzes Leben lang gekannt. Und genauso lange hatte er sie leidenschaftlich geliebt, allerdings ohne Hoffnung auf Erfüllung.
Während der Nacht hatten sie sich immer wieder geliebt. Und dennoch glich sie jetzt im Schlaf einem unschuldigen verängstigten Mädchen, wie sie dalag, das Haar auf dem Kopfkissen ausgebreitet. Dem Mädchen, das sie damals gewesen war, das Freunde finden und akzeptiert sein wollte.
Das änderte sich allerdings, als sie begriff, was es in Belle Terre bedeutete, eine Delacroix zu sein. Als ihr klar wurde, dass man ihr das sündige Leben ihrer Großmütter, Tanten und Cousinen zum Vorwurf machte. Und ihr nie verzeihen würde, dass sie intelligenter und hübscher war als die anderen Mädchen auf der Belle Terre Academy – obgleich sie eine Delacroix war.
Als er sie das erste Mal sah, war sie ein mageres kleines Ding mit grauen Augen, die viel zu groß waren für ihr schmales Gesicht, und einer dichten schwarzen Mähne. Sie war zehn Jahre alt und neu in der Schule. Sie wirkte verloren und vollkommen überwältigt von dem Reichtum, der sie umgab. Er war elf, beinahe schon zwölf, ging also schon sechs Jahre lang auf die teure Privatschule.
Sie war noch sehr klein, während er einer der größten Jungens seines Jahrgangs war. An ihrem ersten Tag hatte sie nicht gewusst, wie sie mit ihrem Schließfach umgehen sollte, und vor lauter Nervosität waren ihr die Schulbücher aus dem Arm gerutscht. Er war zufällig im Raum und half ihr natürlich, die Bücher aufzuheben. Anschließend brachte er sie zu ihrer Klasse.
Das war der Anfang von „Jericho und Maria“. Aus dieser höflichen Geste, die für einen wohlerzogenen Jungen selbstverständlich war, entstand eine einzigartige Freundschaft, die sich mit den Jahren immer mehr vertiefte.
Das blieb von Anfang an nicht ohne Folgen. Man tuschelte und machte abfällige Bemerkungen über sie. Später begriff er, dass die Klassenkameraden nur das wiederholten, was sie von ihren Eltern hörten. Ein paar der Jungen machten sich über ihn lustig, weil er sich überhaupt für Mädchen interessierte. Und dazu noch für ein Mädchen, das im Grunde nicht auf ihre Schule gehörte!
Aber schon damals war Jericho von Marias Lächeln bezaubert gewesen. Ihm gefiel ihr ernster Blick, der ihn immer fand, egal, wo er war oder was er gerade tat. Er mochte die hübsche Maria mit den grauen Augen, auch wenn ihm die bösartigen Hänseleien seiner Schulkameraden auf die Nerven gingen.
Maria war anders als die anderen Mädchen, das wusste er, denn dafür besaß er ein feines Gespür. Und dass sie in der Stadt ausgegrenzt wurde und nicht anerkannt war, lag nicht nur an ihrer Herkunft. Seine Mutter kam aus den Nordstaaten, der einzige „dunkle“ Fleck auf dem sonst so makellosen Namen Rivers. Auch sie war „anders“. Sie kümmerte sich überhaupt nicht darum, wer wessen Vater war und seit wie vielen Generationen eine Familie hier bereits ansässig war. Dass die Herkunft so wichtig war, fand sie albern. Und dass es mehr galt, Reichtum zu ererben, als ihn sich zu erarbeiten, empfand sie als unerträglich arrogant.
Dennoch wurde Leah Rivers von vielen in Belle Terre sehr respektiert, und warum das so war, konnte keiner erklären. Und weil sie ihm beigebracht hatte, Menschen danach zu beurteilen, was sie selbst geschaffen hatten, verstand Jericho nicht, weshalb man über ihn und Maria herzog. Bis ihm eines Tages ein Klassenkamerad hinter vorgehaltener Hand mitteilte, was man sich so im Allgemeinen über die Delacroix-Frauen erzählte und womit sie früher ihren Lebensunterhalt bestritten hätten.
Danach hatte er seine Großmutter aufgesucht, Grandmère Rivers, wie sie genannt werden wollte. Die alte Dame stand ihrer Schwiegertochter in nichts nach, was Direktheit und Offenheit anging, obgleich sie aus einer sehr alten Familie kam. Sie war die ungekrönte Königin von Belle Terre, aber auch sie warnte Jericho. Sie würde nicht viel tun können, wenn die Vorurteile zu Grausamkeiten führten.
Er war damals dreizehn gewesen und reichlich naiv. Aber als er die Großmutter verließ, wusste er, wie es damals in der sogenannten guten Gesellschaft zugegangen war. Dass die reichen Pflanzer sich eine Geliebte hielten und oft sozusagen eine zweite Familie hatten, war damals anerkannter Brauch gewesen. Zum Schluss war Grandmère Rivers auf die Delacroix zu sprechen gekommen. Die Frauen aus dieser Familie waren berühmt gewesen für ihre
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