Julia Exklusiv 0180
auf der angrenzenden Wiese gerade eine Szene mit Sensen schwingenden Landarbeitern gedreht wurde.
Zum Glück war das nicht ihr Problem, denn sie hatte heute zum ersten Mal drehfrei – zumindest bis zum späten Nachmittag.
Es war wundervoll gewesen, einmal richtig auszuschlafen. Nach dem Duschen war sie in ein weites ärmelloses und vorne durchgehend geknöpftes Sommerkleid in ihrer Lieblingsfarbe Blau geschlüpft, hatte sich in der Küche einige Äpfel und eine Flasche Mineralwasser geholt, beides zur Sonnenschutzcreme und Sonnenbrille in den Rucksack gepackt und sich dann unbemerkt aus dem Haus geschlichen. Den Rucksack über der Schulter und ihre weiche Kaschmirdecke in der einen und ein Buch in der anderen Hand, war sie nun auf der Suche nach einem stillen Fleckchen, wo sie ungestört die Ruhe genießen und lesen konnte.
Es war nicht so einfach gewesen, Emily ungesehen zu entwischen. Obwohl Robs Tochter ihr mittlerweile ans Herz gewachsen war, artete deren Bewunderung allmählich in offene Heldenverehrung aus. Lois hatte in den vergangenen drei Wochen fast keinen Schritt mehr ohne das Mädchen tun können.
Andererseits bewahrte Emilys Anhänglichkeit sie aber auch davor, mit Rob allein zu sein. Das erklärte allerdings nicht, weshalb er in letzter Zeit ständig schlecht gelaunt war. Gestern beispielsweise, nachdem sie mit Neil eine Szene mehrmals geprobt hatte, war Rob mit finsterer Miene an ihnen vorbeigegangen und hatte ihnen über die Schulter spöttisch zugerufen: „Ich hoffe, ihr beide unterhaltet euch gut miteinander!“
Weder Neil noch sie hatten sich einen Reim darauf machen können, womit sie ihren Gastgeber verärgert hatten. Und da Lois sich geschworen hatte, Rob möglichst aus dem Weg zu gehen, unterdrückte sie den Impuls, ihm in sein Arbeitszimmer zu folgen und ihm zu sagen, was sie von seinem ungehobelten Benehmen hielt.
In gewisser Weise konnte sie sogar verstehen, weshalb er neuerdings so gereizt war. Seine Geduld wurde ja nicht nur von einer mitten in der Pubertät steckenden Tochter bis aufs Äußerste strapaziert, sondern er hatte ja auch noch seine extrem schwierige Exfrau am Hals.
Lois erkannte neidlos an, dass Martina Ratcliffe eine ausgesprochene Schönheit war und durchaus charmant sein konnte, wenn sie nur wollte. Leider benahm sie sich aber meistens wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen und fiel allen schrecklich auf die Nerven. Trotzdem schien sie aus einem unerfindlichen Grund entschlossen zu sein, auf Ratcliffe Hall auszuharren, und war für die mehr oder weniger verdeckten Anspielungen sowohl des Regisseurs als auch des Aufnahmeleiters, wieso sie nicht endlich abreise, völlig unempfänglich.
Auf Daves Frage, ob sie das Londoner Großstadtleben nicht vermisse, mimte sie die aufopferungsvolle Mutter und versicherte mit unschuldigem Augenaufschlag, sie müsse sich um ihre liebe kleine Emily kümmern, die ein so zartbesaitetes und empfindsames Kind sei. Damit löste sie bei der gesamten Filmmannschaft einen offenen Heiterkeitsausbruch aus, denn es gab wenige junge Mädchen, die so zäh und hartgesotten waren wie die „liebe kleine Emily“.
Anfänglich hatte Lois vermutet, Martina wäre scharf auf eine Rolle in dem Film. Doch seit einigen Tagen kreuzte sie nur noch selten bei den Dreharbeiten auf. Dafür wich sie jetzt nicht mehr von Robs Seite, sodass Lois sich fragte, ob die beiden etwa vorhatten, wieder zusammenzuziehen.
Wie gut, dass Rob und ich uns kaum gesehen haben! dachte Lois nun niedergeschlagen, während sie langsam auf das kleine Gebäude zuging, das aus der Nähe wie die Miniaturausgabe eines griechischen Tempels aussah. Falls Rob und seine Exfrau beschlossen hatten, sich wieder zusammenzutun, ließ sie die beiden auch künftig besser allein.
Nach einer kurzen Besichtigung des nur aus einem einzigen großen und ziemlich verstaubten Raum bestehenden „Tempels“, in dem es nur einige elegante, aber nicht sehr bequeme schmiedeeiserne Stühle gab, entschied Lois, sich lieber im Freien niederzulassen. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf, legte die gefaltete Decke auf eine der breiten Stufen und setzte sich, um zu lesen.
Beim Stöbern in der riesigen alten Schlossbibliothek, die bis zur Decke mit kostbaren in Leder gebundenen Büchern und antiquarischen Sammlerstücken gefüllt war, hatte Lois Jane Austens Mansfield Park entdeckt, einen ihrer Lieblingsromane. Sie hatte ihn seit Jahren nicht mehr gelesen und freute sich, ihre Bekanntschaft mit der
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