Julia Exklusiv Band 238 (German Edition)
instinktiv zu verstehen und jeden ihrer Gedanken erraten zu können. War das Liebe?
Sie konnte nicht anders, als den Blick zu heben. Was sie sah, waren Augen, die ihre Hoffnung zu bestätigen schienen. Augen, in deren Tiefen sie sich beinahe verloren hätte.
Die Kätzchen retteten sie. Eines von ihnen bohrte seine kleinen Krallen in ihr Bein, während die beiden Tiere es sich auf ihrem Schoß gemütlich machten, sodass Lucy schmerzhaft zusammenfuhr.
„Au! Hört auf damit!“, rief sie.
Hanif verstand sogleich, dass sie die Katzen vorschob, um nicht auf sein Angebot antworten zu müssen.
Bevor sie noch etwas sagen konnte, erhob er sich, trat einen Schritt zurück und machte eine Verbeugung. Diesmal neigte er nicht nur leicht den Kopf, sondern verneigte sich mit dem gesamten Oberkörper. Dann zog er sich ohne ein weiteres Wort zurück.
Lucy hatte recht, dachte Hanif, wenn auch widerwillig. Sie war an einen anderen Mann gebunden, und solange sie nicht frei war, konnte sie sich keinem anderen Mann versprechen.
Er mochte ihre Entscheidung bedauern, aber er musste ihr zugleich seinen Respekt zollen. Lucy machte sich keine Illusionen, sondern sah der Wirklichkeit ins Auge. Er beschloss, sich ein Beispiel an ihr zu nehmen. Es war an der Zeit, dass er Lucys Ehemann fand.
Hanif rief Zahir an, und diesmal hinterließ er eine Nachricht auf der Mailbox: „Finde Mason und bring ihn hierher.“
Dann ging er nach draußen zu den Stallungen, um sich das Tier anzusehen, das seine Schwester geschickt hatte.
Er erschrak, als er dort auf Ameerah traf, die unter der Anleitung des Stallburschen das Fell des Ponys bürstete. Mit einer Handbewegung schickte Hanif den jungen Mann fort und nahm dann dessen Platz ein. Ameerah war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie ihn gar nicht bemerkte. Sie plapperte fröhlich auf das Tier ein, dessen hellbraune Mähne sie mit einer Bürste bearbeitete.
Das kleine Mädchen war seiner Mutter so ähnlich, dass es Hanif schmerzte, es anzusehen. Ameerahs Gesten, die Art, wie sie ihren Kopf leicht geneigt hielt, ihr Haar, das ihr in dichten Locken über die Schultern fiel.
Sie beugte sich vor, um die Stirnlocke des Pferdes zu erreichen, aber da sie zu klein war, wandte sie sich dem Stallburschen zu, damit dieser ihr helfen sollte. Als sie sah, dass stattdessen Hanif neben ihr stand, erstarrte sie.
Er brachte kein Wort heraus, hätte auch gar nicht gewusst, was er sagen sollte. Aber als das Pony ihr im nächsten Moment einen Schubs gab und sie beinahe auf den Boden gefallen wäre, fing er sie auf und hob sie hoch, sodass sie das Pony zu Ende bürsten konnte.
Anschließend setzte er sie wieder auf dem Boden ab. „Morgen“, sagte er, „bringe ich dir das Reiten bei.“
„Lucy! Lucy!“
Es war noch früh, die Sonne war gerade erst aufgegangen, und dennoch war Lucy schon angezogen. Sie hatte für die Reise möglichst schlichte Sachen ausgewählt: einen langen Leinenrock und eine cremefarbene Seidenbluse.
Heute würde sie Rawdah al-’Arusah verlassen. Allein der Gedanke brach ihr das Herz, aber bleiben konnte sie auch nicht.
Nachdem Hanif sie am Vorabend allein gelassen hatte, hatte sie die Türen geschlossen und sich in ihre Gemächer zurückgezogen. Sie hatte allein zu Abend essen wollen. Auf diese Weise würde sie Hanif nicht noch einmal begegnen müssen, und er würde nicht in ihren Augen lesen können, dass sie eigentlich lieber bleiben würde.
Doch Ameerah ließ sich von geschlossenen Türen nicht aufhalten. Sie stürmte aufgeregt in Lucys Zimmer, in voller Reitmontur und mit kniehohen Stiefeln. Ihre Haare waren unter einem schwarzen Reithelm verborgen.
Das Mädchen strahlte über das ganze Gesicht und zerrte an Lucys Arm. Obwohl es schnell sprach, verstand Lucy jedes Wort. Sie sollte mitkommen und zusehen, wie Ameerah auf ihrem Pony ritt.
Wie hätte Lucy ihr diesen Wunsch abschlagen können? Außerdem war sie sicher, dass sie auf diese Weise Hanif nicht begegnen würde. Wenn sie mit ihm sprach, musste sie vollkommen Herr ihrer Sinne sein. Sie durfte sich um keinen Preis verraten.
Also folgte sie Ameerah, so schnell ihre Krücken es zuließen. Die Größe der Stallungen überraschte sie, obwohl sie bereits geahnt hatte, dass sie gewaltig sein würden. Um einen gepflasterten Innenhof herum waren Dutzende von Boxen angeordnet, außerdem standen hier zahlreiche Anhänger für den Transport von Pferden und eine Auswahl an dreirädrigen Fahrzeugen, mit denen man durch die Wüste reisen
Weitere Kostenlose Bücher