Julia Exklusiv Band 238 (German Edition)
„Dann haben sie sie gekratzt, und es war aus mit der Freundschaft.“
„Das war vorauszusehen. Hat meine Schwester sonst noch etwas geschickt?“
„Das kann man wohl sagen. Ein Dreirad. Bücher. Spiele. Puzzles.“ Sie brach ab.
„Sonst noch etwas?“, hakte er nach.
„Wie kommst du auf die Idee, dass sie sonst noch etwas geschickt haben könnte?“
„Weil dein Gesicht immer ganz genau verrät, was du gerade denkst.“
„Nein …“
„Doch. Ich muss dich nur anschauen und weiß, was in dir vorgeht.“ Selbst wenn ihr Gesicht ganz ruhig war, konnte er in ihren Augen lesen wie in einem Buch. „Vorhin zum Beispiel“, erklärte er, „als du in den Teich gesprungen warst, konnte ich ganz deutlich sehen, dass du trotz deiner Schmerzen nur an Ameerah gedacht hast. Du hast mich in Gedanken angefleht, sie in den Arm zu nehmen.“
Sie schluckte und schüttelte leicht den Kopf, so als sei ihr die Vorstellung unangenehm, dass sie für ihn so einfach zu durchschauen war. „Das war dein eigenes Herz, das zu dir gesprochen hat, nicht ich. Aber um auf deine Frage zurückzukommen“, wechselte sie hastig das Thema, „deine Schwester hat tatsächlich noch etwas geschickt. Ein Shetlandpony ist heute Morgen angekommen, komplett mit Sattel, Zaumzeug und allem Drum und Dran.“ Als er schwieg, fügte sie hinzu: „Es tut mir leid.“
„Dazu besteht kein Anlass. Du konntest ja nicht ahnen, was meine Schwester alles veranlassen würde.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber eins verstehe ich nicht. Warum läuft Ameerah im Garten herum und jagt Schmetterlinge, anstatt auf diesem Pony zu reiten?“
„Ich habe ihr gesagt, dass das Pony noch müde ist nach der langen Reise“, erklärte Lucy. „Es ist schließlich ein sehr, sehr weiter Weg von den Shetlandinseln bis hierher.“
Hanif lachte. Es war ein volles und herzliches Lachen, bei dem Lucy ganz warm ums Herz wurde. Dass sie ihn zum Lachen gebracht hatte, war ein wundervolles Geschenk.
Dann kam er auf sie zu, griff nach ihrer Hand und sagte: „Geh nicht, Lucy.“
9. KAPITEL
„Geh nicht, Lucy. Bleib hier.“
Hanif kniete nun vor ihr, hatte ihre Hände ergriffen, und Lucy verstand genau, worum er sie bat. Und sie hätte zu gerne Ja gesagt, hätte ihn und alles, was er ihr anbot, angenommen.
Als er sie zuvor geküsst hatte, war ihre Reaktion instinktiv gewesen, ohne jeden Gedanken an die Konsequenzen oder daran, ob es richtig oder falsch war, ihn zu küssen. In seinen Armen waren solche Überlegungen unendlich fern gewesen.
Sogar jetzt, als er ihre Hand berührte, war die Versuchung noch groß genug, jeden rationalen Gedanken zu vergessen. Größer, als sie es jemals für möglich gehalten hätte.
Aber sie musste ihren Verstand benutzen.
Nicht um ihretwillen, sondern um seinetwillen.
Sie hatte bereits einen furchtbaren Fehler gemacht, als sie sich nach Steves Heiratsantrag auf einen Schulmädchentraum eingelassen hatte. Sie war längst alt genug, um zu wissen, dass das Leben kein Märchen war. Aber wann hätte sie lernen sollen, wie das Leben wirklich aussah? Sie hatte überhaupt keine Möglichkeit gehabt, erwachsen zu werden, Erfahrungen zu sammeln und Fehler zu machen.
Woher sollte sie wissen, ob Hanifs Angebot nicht nur eine weitere Traumtänzerei war, eine leere Hoffnung, der sie sich nur hingab, um sich nicht mit der traurigen Wirklichkeit ihres Lebens abfinden zu müssen?
Und vielleicht war es auch genau das, was sie für Hanif darstellte: eine leere Hoffnung. Dass die Anwesenheit einer anderen Frau die Trauer und den Schmerz vertreiben möge, die nach Noors Tod sein Leben bestimmt hatten.
Sie hatten beide so lange auf der Schattenseite des Lebens verbracht, dass sie überhaupt nicht beurteilen konnten, ob das, was sie empfanden, echte Gefühle waren oder nur eine Art Fata Morgana.
Unfähig, ihm in die Augen zu sehen, hielt Lucy den Blick gesenkt. Ihr fiel auf, wie stark und schön seine Hände waren. Die Hände eines Reiters, eines Dichters, eines Prinzen. Ihre Hände dagegen waren die Hände einer Frau, die ihr Leben lang hart gearbeitet hatte, mit kurzen Nägeln und einer rauen Haut, die durch keine Handcreme der Welt zart und weich werden würde.
Vielleicht hatte Hanif recht gehabt, als er angedeutet hatte, dass sie ihre Haare nicht nur offen getragen hatte, weil sie es ihrer Großmutter heimzahlen wollte, sondern auch um ihrer selbst willen. Sie waren der letzte Rest Weiblichkeit, der ihr in all den Jahren geblieben war.
Hanif schien sie
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