Julia Extra 0353
waren Tage geworden, da es immer wieder die eine oder andere Komplikation gab. Hannah solle sich keine Sorgen machen, schrieb Emmeline, alles würde gut werden. Wenn sie ihre Rolle nur noch ein bisschen weiterspielte.
Eine der Hofdamen flüsterte Hannah zu: „Königliche Hoheit, alle warten nur auf Sie.“
Hannah sah wieder zu dem Thron am anderen Ende des Saals. Er schien so weit weg zu sein. Aber dann setzte sie einen zitternden Fuß vor den anderen und schritt den dunkelroten Teppich entlang. Ihre Schritte in den hohen Pumps waren unsicher, das Gewicht ihrer seidenen Abendrobe mit den unzähligen Pailletten schien sie nach unten zu ziehen, doch am schlimmsten war der Blick, mit dem König Patek sie von seinem Thron aus unverwandt ansah.
Noch nie hatte ein Mann sie so aufmerksam betrachtet. Ihre Haut prickelte, Hitze stieg ihr ins Gesicht.
Selbst im Sitzen wirkte König Patek imposant. Er war groß und breitschultrig, mit starken und schönen Gesichtszügen. Doch es war sein Blick, der ihr den Atem nahm. In seinen Augen las sie Besitzerstolz. Die Hochzeit sollte erst in zehn Tagen stattfinden, aber sein Blick verriet, dass er sie schon jetzt als sein Eigentum betrachtete.
Hannah schnürte es die Kehle zu. Ihr Herz raste. Sie hätte sich niemals auf das Spiel einlassen sollen. Zale Patek von Raguva würde sich bestimmt nicht gern hinters Licht führen lassen.
Als sie beim Thron angekommen war, raffte sie den schweren Stoff ihres türkisblauen Rocks mit einer Hand zusammen und machte einen anmutigen Knicks. Zum Glück hatte sie das am Morgen geübt. „Euer Hoheit“, sagte sie auf Raguvanisch, was sie ebenfalls geübt hatte.
„Willkommen in Raguva, Königliche Hoheit“, antwortete er in akzentfreiem Englisch. Seine Stimme klang so tief wie ein verführerisches Versprechen.
Sie hob den Kopf. Überrascht sog sie die Luft ein. Das hier war also der fünfunddreißigjährige König von Raguva, dem Nachbarland Griechenlands und der Türkei an der Adriaküste. Er wirkte wesentlich jünger. Außerdem sah er unverschämt gut aus. Die Fotos, die sie im Internet gefunden hatte, wurden ihm nicht gerecht.
Nach und nach nahmen ihre Augen sein Gesicht in sich auf: kurzes dunkles Haar, bernsteinfarbene Augen, hohe Wangenknochen, energisches Kinn.
Dazu war er gut gebaut. Unter der Smokingjacke konnte sie die breiten Schultern und die muskulöse Brust erahnen. Trotz seiner vornehmen Herkunft hatte er sich früher einen Namen als Fußballer gemacht. Nachdem seine Eltern allerdings vor fünf Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren, hatte er seine überaus erfolgreiche Karriere beendet.
Sie hatte gelesen, dass er während seiner zehn Jahre als Fußballprofi für zwei der erfolgreichsten europäischen Vereine nur für den Sport gelebt hatte. Seit er den Thron bestiegen hatte, widmete er sich mit gleicher Entschlossenheit und Leidenschaft den Regierungsgeschäften.
Und nun sollte dieser ungeheuer ehrgeizige Mann schon bald die lebensfrohe, bezaubernde Prinzessin Emmeline heiraten.
In diesem Moment wusste Hannah nicht, ob sie Neid oder Mitleid empfinden sollte.
„Vielen Dank, Euer Majestät“, antwortete Hannah und sah ihm in die Augen.
Es war beinahe so, als hätte sie ein Blitz getroffen. Ihre Knie zitterten, alle Stärke schien aus ihrem Körper zu weichen.
Ängstlich beobachtete sie, wie König Patek sich von seinem Thron erhob und die Stufen zu ihr hinunterstieg. Er nahm ihre Hand, hob sie zum Mund und berührte ihren Handrücken sanft mit den Lippen. Die Berührung jagte ihr einen heißen Schauder über den Rücken.
Für einen Moment umfing sie Schweigen, ein intimes, erwartungsvolles Schweigen, das ihr die Röte ins Gesicht trieb. Dann machte König Patek eine Handbewegung in Richtung seines Hofstaats. Alles klatschte, und bevor sie es sich versah, hatte er sie schon dem ersten seiner vielen Berater vorgestellt.
Der König führte sie den roten Teppich entlang und machte sie mit den bedeutenden Mitgliedern seines Hofstaates bekannt. Doch das Gefühl, seine Haut auf der ihren zu spüren, machte es ihr unmöglich, sich auf irgendeinen Menschen zu konzentrieren. Schon bald verschwammen die Gesichter vor ihren Augen.
Zale Patek hatte Emmeline noch längst nicht allen Mitgliedern seines Hofstaates vorgestellt, als er bemerkte, dass ihre Hand zitterte. Er musterte sie von der Seite und sah die Erschöpfung in ihren Augen und den angespannten Zug um ihre Mundwinkel. Zeit für eine Pause, dachte er.
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