Julia Extra 360
nicht ein Wort über meine Zwillingsschwester gesagt.“ Wut stand in ihren Augen, als sie den Blick hob. „Meine Eltern wussten beide, weshalb meine Beziehung mit dir in die Brüche gegangen ist, aber keiner hielt es für nötig, einen Ton zu sagen. Das kann ich ihnen nicht vergeben.“
Behutsam nahm er ihr das Glas aus der Hand. „Dein Ärger ist verständlich, aber mein mangelndes Vertrauen ist der Grund für den Bruch unserer Beziehung“, widersprach er. „Wenn jemand Schuld trägt, dann ich.“
Gisele sah ihm direkt in die Augen. „Weißt du, welche Frage mich am meisten beschäftigt? Wie haben sie gewählt?“
„Du meinst, wer welchen Zwilling bekommt?“
Zischend stieß sie die Luft durch die Zähne. „Es geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Wie konnte meine leibliche Mutter mich aufgeben? Wie konnte mein Vater das von ihr verlangen? Und wie konnte Hilary das Kind einer anderen annehmen? Hat sie denn überhaupt keine Selbstachtung?“
Emilio nahm Giseles Hände. „Hast du sie gefragt?“
„Natürlich habe ich sie gefragt.“ Ihre Augen blitzten auf. „Sie hat ihn glücklich machen wollen. Dafür hat sie immer alles getan, nur hat es nie funktioniert.“
„Du hast nie etwas davon erwähnt, dass deine Eltern nicht glücklich miteinander waren.“
Gisele sah auf ihre verschlungenen Finger hinunter. Dann zog sie hastig ihre Hände zurück. Mit steifem Rücken setzte sie sich auf. „Man gibt eben nicht gern zu, wenn man sich vorkommt, als wäre man nicht gut genug für die Eltern, ganz gleich was man auch anfängt. Meine Mutter hat nie mit mir geschmust oder gespielt, das überließ sie der Kinderfrau. Jetzt verstehe ich, warum. Ich war ja nicht ihr Kind.“ Sie sog scharf die Luft ein. „Mein Vater war nicht anders. Ich glaube, er hatte sich einen Sohn gewünscht, den meine Mutter ihm nicht geben konnte. Und von seiner Geliebten hatte er plötzlich zwei Töchter, von der er dann eine wählte. Vielleicht hat er ja immer gedacht, dass er die Falsche gewählt hat. Oder vielleicht hat er sich auch gewünscht, er hätte beide Töchter ignoriert. Es war vermutlich die Schuld, die ihn bis zum bitteren Ende in einer lieblosen Ehe festhielt. Plötzlich ergibt auch das jahrelange drückende Schweigen zwischen meinen Eltern Sinn.“
Emilio hatte ihr mit gerunzelter Stirn zugehört. Nie zuvor hatte sie so offen über ihre Kindheit gesprochen. Er hatte immer geglaubt, sie wäre in einem relativ glücklichen und stabilen Elternhaus aufgewachsen, und er hatte sie darum beneidet. Jetzt wurde ihm klar, wie wenig er sie gekannt hatte, obwohl er sie hatte heiraten wollen. Weil er von ihrer Schönheit überwältigt gewesen war. Gedanken, wer sie wirklich war, hatte er sich kaum gemacht. Ihm war, als würde er sie jetzt zum ersten Mal richtig ansehen. Sie war so schön wie früher, doch er erkannte auch eine Zerbrechlichkeit in ihr, die er damals nicht gesehen hatte. Er war es, der sie so verletzt hatte. Er hatte keine Ahnung, wie er das wiedergutmachen sollte, aber er würde alles versuchen, so viel stand fest.
„Wie kommt deine Schwester damit zurecht?“, fragte er.
Gisele entspannte sich ein wenig. „Sie nimmt es sehr viel gelassener. Nur mit einer Mutter aufzuwachsen hat sie wohl abgehärtet. Ihren Erzählungen entnahm ich, dass sie viel öfter auf ihre Mutter aufgepasst hat als umgekehrt. Sie hat auch erzählt, dass die Männer im Leben ihrer Mutter ständig gekommen und gegangen sind.“
„Ist sie enttäuscht, dass sie euren Vater nie kennengelernt hat?“
„Ja und nein.“ Gisele runzelte die Stirn. „Ich glaube, sie hätte ihm anständig die Meinung gesagt. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Wahrscheinlich kann ich viel von ihr lernen. Es wird Zeit, dass ich öfter den Mund aufmache.“
„Also ich finde, du machst das schon ziemlich gut.“ Er lächelte schief. „Vielleicht irre ich mich ja schon wieder. Vielleicht hast du dich tatsächlich verändert.“
Ihre Augen blitzten. „Glaube es ruhig.“
Emilio schwieg eine Weile. „Hast du dem Fahrer die Schlüssel zu deinem Laden gegeben?“
„Ja.“
„Gut. Deine Assistentin wird die Stellung halten, bis du entschieden hast, wie der nächste Schritt aussehen soll. Ich habe schon mit ihr darüber gesprochen.“
Sie sah ihn fragend an. „Was meinst du?“
„Vielleicht möchtest du deinen Italienaufenthalt ja verlängern“, sagte er. „Für den Fall ist dann alles vorbereitet.“
Sie warf ihm einen abfälligen Blick zu. „Ist es nicht
Weitere Kostenlose Bücher