Julia Extra 360
wurde ihr plötzlich ganz anders zumute. War sie wirklich drauf und dran zu heiraten? Sie konnte es fast nicht glauben.
„Trägst du mich dann nachher auch über die Schwelle?“, erkundigte sie sich.
„Über welche? Wir haben noch nicht besprochen, wo wir leben werden.“
Verflixt! So weit voraus hatte sie nicht gedacht. Sie hätte ihren verrückten Plan besser durchdenken sollen, bevor sie ihn spontan ausführte. Die Adoptionsbehörde würde bestimmt ihre Lebensumstände genauestens unter die Lupe nehmen, bevor sie ihr die Erlaubnis erteilte, Jiao zu sich zu nehmen. Zumindest würde sie einen Bericht von Linda anfordern.
Man brauchte kein Genie zu sein, um zu merken, dass eine Ehe nur auf dem Papier bestand, wenn Mann und Frau in verschiedenen Wohnungen lebten.
Also gab es nur eine Möglichkeit.
„Wir müssen zusammenleben“, erklärte Ellie und musterte Finn. Wie würde er jetzt reagieren? „Sonst glaubt uns niemand, dass wir wirklich verheiratet sind.“
„Ja, wir müssen uns den Anschein geben, tatsächlich zusammenzugehören“, stimmte er zu und erwiderte ihren Blick.
Um sie herum eilten Leute durch die weitläufige Lobby, unterwegs in die Gerichtssäle oder Büros. Ihre Stimmen hallten in dem großen Raum mit dem Marmorfußboden wider.
Trotzdem war es Ellie plötzlich zumute, als wäre sie mit Finn allein in einer eigenen kleinen Welt.
Mit dem Mann, der zugestimmt hatte, sie zu heiraten.
Der bereit war, ihr Leben zu ändern. Und das von Jiao.
„Wenn die Leute erfahren, dass ich durchgebrannt bin, um spontan zu heiraten, vergleichen sie mich vielleicht nicht länger mit einem Habicht“, meinte Finn schließlich hoffnungsvoll.
„Sondern mit einer Taube?“ Sie lachte.
„Das glaube ich eher nicht.“ Auch er lachte. „Das würden sie nicht mal tun, wenn ich in Las Vegas in einer Drive-in-Kapelle heirate, mit Elvis als Trauzeugen.“
„Man kann nie wissen. Heiraten verändert Menschen. Beziehungen verändern Menschen“, meinte sie leise und dachte an Jiao.
„Das tun sie. Aber nicht unbedingt zum Besseren.“
Denkt er jetzt an seine Exfreundin, die seinen guten Ruf ruiniert hat? überlegte Ellie. Oder gab es noch andere Menschen in seinem Leben, die ihn zu dieser pessimistischen Ansicht gebracht hatten?
Finn räusperte sich. „Um aufs frühere Thema zurückzukommen: Unsere Ehe muss nach außen hin überzeugend wirken, und das schaffen wir am besten, wenn wir zusammenwohnen. Das hätte auch den Vorteil, dass wir am Feierabend zu Hause weiter über das Projekt reden können.“
Obwohl er ganz sachlich und nüchtern klang, riefen seine Worte vor ihrem inneren Auge ungebeten Bilder von nächtlichen Aktivitäten hervor, die keineswegs mit der Arbeit zu tun hatten.
Seit sie Finn auf der Party zum ersten Mal gesehen hatte, faszinierte er sie. Es hatte ihr gefallen, wie er sozusagen gegen den Strom schwamm, indem er Bier statt Wein trank. Seine entschlossene und zugleich charmante Art hatte sie beeindruckt. Von Weitem hatte sie ihn gut aussehend gefunden, von Nahem sogar umwerfend attraktiv. Jedes Mal, wenn er lächelte, setzte ihr Herz einen Schlag lang aus.
Und nun malte sie sich aus, wie es wäre, von Finn berührt, von ihm geküsst zu werden. Von ihm geliebt zu werden …
Moment, das gehört nicht zum Deal! rief Ellie sich zur Ordnung. Das Verhältnis musste rein platonisch bleiben, damit sie es am Ende ohne Bedauern lösen konnte. Sie wollte kein gebrochenes Herz riskieren oder sich ihre Zukunft mit einer Beziehung verbauen. Sich in Finn zu verlieben, würde alles verkomplizieren.
Ihn spontan zu heiraten findest du etwa nicht kompliziert? fragte eine innere Stimme sie spöttisch.
Plötzlich fingen ihre Nerven an zu flattern.
Ellie wollte Finn gerade sagen, sie könne ihren Plan doch nicht ausführen, da wurde die Eingangstür geöffnet, und ein großer schlanker Mann eilte zu ihnen.
„Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Ich hatte bisher einen verrückten Tag. Wie üblich. Bei dir ist es ja dasselbe, stimmt’s, Finn?“
„Hallo, Charlie. Wie geht’s dir?“, erwiderte Finn und klopfte dem Mann auf die Schulter.
„Großartig! Nicht so großartig wie dir, allerdings. Da läufst du einfach von der Arbeit weg, um zu heiraten. Du überraschst mich, alter Freund.“ Er streckte Ellie die Hand hin. „Darf ich mich vorstellen: Richter Charles Robinson. Zu Ihren Diensten.“
Ellie sah ihn erstaunt an. „Finn sagte mir, er habe einen Freund bei Gericht, aber dass Sie
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