Julia Extra Band 0193
sie mit gesenkter Stimme, „ob sie alles gehört haben?“
„Ist anzunehmen.“ Er hatte also nicht vor, es ihr leichter zu machen. „Ich denke, wir sollten jetzt hineingehen. Ich muss mich um die Gäste kümmern.“
„Du erwartest doch nicht etwa von mir, dass ich da mit hineinkomme?“ Cass kannte die meisten dieser Leute nicht, und sie wollte sie auch nicht kennenlernen.
Dray schüttelte den Kopf. „Ich habe es schon vor langer Zeit aufgegeben, etwas von dir zu erwarten, Cassie.“ Er hörte sich plötzlich müde an. „Vielleicht ist es wirklich am besten, wenn du jetzt einfach gehst.“
Gehen? Jetzt sollte sie also gehen? Er hatte keine Verwendung mehr für sie, und jetzt war sie also entlassen? Er war immer noch der gleiche Autokrat!
„Sie kann jetzt nicht gehen“, hörte sie plötzlich Tom sagen. „Dray, du kannst sie nicht gehen lassen! Ich weiß nicht, was ich tun soll … Cass, du musst mir helfen.“
Tom sah sie so flehentlich an, mit diesem verwirrten, verzweifelten Blick … Drayton Carlisle stehen zu lassen war eine Sache, aber bei Tom war das etwas anderes.
„Ist schon gut, Tom“, meinte sie ruhig. „Ich bleibe noch.“
„Danke.“ Er seufzte tief. „Aber es muss unter uns bleiben. Wir müssen irgendwohin gehen, wo wir ungestört sind.“
„Ihr könnt in mein Wohnzimmer gehen“, schlug Dray vor. Als Tom nickte, sagte Dray leise zu Cass: „Ich komme nach, so schnell ich kann. Nimm nicht alles für bare Münze, was Tom von sich gibt. Er ist nicht er selbst.“
„Das sehe ich auch.“ Hielt er sie jetzt auch noch für begriffsstutzig?
Tom ging den langen Korridor voraus und öffnete eine Tür, die in einen großen Raum führte, der offensichtlich nur von der Familie benutzt wurde. Alte, voll bepackte Bücherregale füllten die Wände, ein schon leicht verschlissenes, aber sehr gemütlich wirkendes Sofa stand mitten im Raum, und bequeme Sessel bildeten eine Sitzgruppe um den großen, offenen Kamin. An diesem Raum hatte kein Innenarchitekt seinen Arbeitseifer ausgelassen, deshalb wirkte er so anheimelnd.
Cass lehnte den Whisky ab, den Tom ihr anbot. Besorgt sah sie zu, wie er mit zitternden Händen ein Glas für sich eingoss, es in einem Zug herunterkippte, sich ein zweites auffüllte und dann mit der Karaffe und dem Glas zum Tisch herüberkam und sich ihr gegenüber setzte.
Sie wartete geduldig darauf, dass er zu sprechen beginnen würde, er schien nur schwer Worte finden zu können.
„Du kanntest sie besser als jeder andere, nicht wahr?“, setzte er schließlich an.
Wahrscheinlich hätte sie bejahen sollen, aber was wollte er hören? „So würde ich das nicht sagen“, wich sie aus.
„Aber du wusstest von dem Kind?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe es erst vor einer Woche erfahren. Wie geht es dem kleinen Mädchen?“
Tom runzelte die Stirn, dann winkte er ungeduldig ab. „Ich meine nicht das Baby, ich meine das andere.“
Cass zuckte unmerklich zusammen. Aber natürlich, irgendwann hatte es ja herauskommen müssen. Sie versuchte, Zeit zu gewinnen. „Welches andere?“
„Sie hatte schon mal ein Kind geboren.“ Sein Mund verzog sich im Schmerz. „Die Ärzte nahmen an, ich wüsste es … Aber du hast es gewusst.“
Es gab keinen Grund mehr, es geheim zu halten. Pen war tot. „Ja, Pen war schon einmal schwanger, als sie jünger war.“
„Wie jung?“
„Spielt das eine Rolle?“
„Ja, zum Teufel nochmal!“, fuhr Tom auf. Wütend glich er seinem großen Bruder, doch Cass konnte es verstehen. Vor knapp einer Woche war seine ganze Welt zusammengebrochen.
„Sie war sechzehn.“
„Von wem?“
„Sie traf einen Jungen, nur wenig älter, auf einer Party.“
„Sie muss ihn gemocht haben, um das Kind zu behalten.“
„Ja, wahrscheinlich.“ Tom brauchte nicht zu wissen, dass es damals bereits zu spät gewesen war, um etwas zu unternehmen. „Tom, sie war noch sehr jung“, fuhr Cass leise fort. „Es war ein Fehler, wie man ihn macht, wenn man sehr jung ist. Pen wollte nicht mehr an diesen Fehler denken. Das kannst du doch sicher verstehen?“
Ihr mitfühlender, milder Ton schien Tom nur noch mehr aufzuregen. Es war, als wollte er Pen verletzen, sie für all die Lügen, die sie ihm erzählt hatte, büßen lassen. Da Pen nicht mehr da war, bot sich Cass an. „Und wo hast du dich herumgetrieben, als das passierte? Als sie jemanden brauchte, der auf sie aufpasste?“
Cass wurde bleich. Vielleicht lag ja sogar etwas Wahres in Toms
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